Sadiq al-Azms Werk und seine Bedeutung in Europa

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von Werner Ende

Vortrag zur Erinnerungsfeier von Sadiq Jalal Al-Azm, Berlin, 17. Februar 2017

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kolleginnen, Kollegen und Freunde, verehrte Gäste,

bitte erlauben Sie mir, meine Rede mit einigen Bemerkungen über die Umstände zu beginnen, unter denen ich Sadiq  al-`Azm erstmals begegnet bin. Das war im Herbst 1969. Im September war ich nach Beirut gekommen, um eine Tätigkeit als „wissenschaftlicher Referent“ am Deutschen Orient-Institut (al-ma`had al-almani li-l-abhath ash-sharqiya) anzutreten. Dieses Institut war 1961 gegründet worden. Es besteht bis heute. Seine Aufgabe ist es, deutschen Wissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus unterschiedlichen Bereichen der Orientwissenschaften für einige Zeit die Möglichkeit zur Förderung ihrer eigenen fachlichen Qualifikation zu bieten, und zwar in einer für Orientalisten besonders anregenden Umgebung und im Kontakt mit arabischen Kolleginnen und Kollegen.  

Damals, in den 1960-er Jahren, standen für die meisten dieser (meist jungen) Leute Vorhaben aus der traditionellen Arabistik, Islamwissenschaft oder ähnlicher Fächer im Vordergrund, also z. B. Texteditionen oder Studien zur klassischen arabischen Literatur. Einige dieser Referenten brachten ihre  Projekte sehr erfolgreich voran, kümmerten sich aber kaum um die aktuellen kulturellen Entwicklungen im Libanon und den Nachbarländern. Andere versuchten, sich auch  mit der allgemeinen kulturellen Szene des Landes vertraut zu machen – so auch zwei Referenten aus Deutschland, die in den Jahren 1962 und 1963-64 an dem genannten  Institut tätig waren: Stefan Wild und Josef van Ess.

Van Ess hatte Sadiq al-`Azm vermutlich schon 1963 kennengelernt, und wurde später – zurück in Deutschland – auf einen Vortrag aufmerksam, den Sadiq, damals Dozent für Philosophie an der Amerikanischen Universität in Beirut,  am 10. Dezember 1965 im „Arabischen Kulturklub“ (an-nadi ath-thaqafi al-`arabi) in Beirut gehalten hatte. Er trug den Titel „Ma´sât Iblîs“, also „Die Tragödie des Iblîs“ (d.h. Satans), und erregte im Libanon erhebliches Aufsehen. Es ging um ein im Koran mehrfach erwähntes Thema, nämlich die Weigerung des Engels Iblîs, auf Befehl Gottes vor Adam niederzuknien, und um die theologische Interpretation dieser Befehlsverweigerung. Die Brisanz dessen, was Sadiq in seinem Vortrag versuchte, war offensichtlich – nämlich eine radikale Ent-Mythologisierung und Neubewertung dieser koranischen Erzählung, die, wie er betonte, kein tatsächliches Geschehen widerspiegele. Und: Satan sei nicht der Rebell gegen Gott,  sondern eigentlich der große Rechtgläubige. Auf den theologischen Hintergrund und das Ergebnis dieser Neu-Interpretation kann ich hier nicht eingehen.

1968 veröffentlichte van Ess in der bekannten islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift „Die Welt des Islams“ einen Aufsatz mit dem Titel „Eine Ehrenrettung des Satans und seine Folgen“, in dem er Sadiqs Argumentation und die Reaktion eines Teils der libanesischen Öffentlichkeit darstellte. Mit diesem Aufsatz machte er Sadiq erstmals einem breiteren westlichen Fachpublikum bekannt.

Unter vielen anderen auch mir.

Kaum war ich 1969 in Beirut angekommen, da fragte mich der ehemalige Referent und  damalige Direktor des Orient-Instituts, Stefan Wild, ob ich Interesse hätte, ihn zu einem Besuch bei Sadiq al-Azm in dessen Wohnung zu begleiten. Er erzählte mir von zwei Büchern, die Sadiq veröffentlicht hatte, nämlich (1968) „Die Selbstkritik nach der Niederlage“ (an-naqd adh-dhati ba`d al-hazîma – gemeint ist die Niederlage im Junikrieg 1967), und 1969 „Kritik des religiösen Denkens“ (naqd al-fikr ad-dini). Beide hätten heftige Reaktionen hervorgerufen und im zweiten Fall sogar zu einem Gerichtsverfahren geführt.

Natürlich hatte ich ein starkes Interesse daran, meinen Kollegen bei seinem Besuch zu begleiten. Der Abend ist mir bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben. Vor allem wegen unseres Gesprächs zu dritt, aber auch, weil Sadiq damals starke Rückenbeschwerden hatte und die ganze Zeit über gezwungen war, in liegender Haltung mit uns zu diskutieren. Das tat er mit Nachdruck, Witz  und Ironie. Ich war beeindruckt.

Wenn Sie mir die gedankliche Assoziation erlauben: In der Folgezeit hat Sadiq, im weiteren Sinne,  oft einen starken Rücken bewiesen, und uns seine Fähigkeit zum „aufrechten Gang“ vor Augen geführt.  

Stefan Wild hat speziell über das Buch „Naqd al-fikr ad-dini“  in der Fachzeitschrift „Der Islam“ 1972 einen Aufsatz veröffentlicht, durch den Sadiq’s Rolle als radikaler, säkular orientierter Intellektueller in der europäischen Orientalistenszene weithin bekannt wurde. Der Aufsatz hat auch dazu beigetragen, dass ein Teil der westlichen Medien auf ihn aufmerksam wurde. Er wurde – und blieb bis zu seinem Tode – ein gefragter Interviewpartner.  Das ergab sich nicht zuletzt daraus, dass er sowohl über eine profunde Kenntnis des arabischen kulturellen Erbes (nicht zuletzt natürlich der Philosophie) verfügte, als auch über eine außerordentliche Belesenheit in der westlichen Literatur- und Geistesgeschichte. Das machte ihn für Interviews, aber  auch als Vortragenden weithin interessant. Aber nicht nur interessant, sondern gerade auch für manche  westliche Gesprächspartner unbequem: Seine Kritik an wesentlichen Elementen der Nahost-Politik der USA und anderer westlicher Staaten war und  blieb unnachgiebig. Andererseits nahm er weiterhin Anstoß an Ideologie und Praxis vieler Regierungen arabischer Staaten. Das hatte sich schon in dem Buch „An-naqd adh-dhati ba`d al-hazima“ gezeigt: Da hatte er offen ausgesprochen, was nicht wenige andere  arabische Intellektuelle ebenfalls meinten,  aber nicht auszusprechen wagten.

Sadiqs Offenheit verschaffte ihm natürlich viele Feinde und brachte ihn von Zeit zu Zeit in Gefahr.

So geschah es auch im Zusammenhang mit seiner entschiedenen Parteinahme für Salman Rushdie und dessen Werk „The Satanic Verses“. Diese Parteinahme wurde im Westen hauptsächlich durch einen langen Aufsatz bekannt, der 1991 in der hier schon genannten Zeitschrift „Die Welt des Islams“ erschien: „The Importance of Being Earnest about Salman Rushdie“.  Sadiq wandte sich darin nicht nur gegen Khomeini’s Fatwa und deren muslimische Apologeten, sondern auch gegen einige nichtmuslimische westliche Autoren, die seiner Ansicht nach nicht entschieden genug die Meinungsfreiheit verteidigten. Zugleich war ihm daran gelegen, auch die Stellungnahmen seiner Kritiker zu dokumentieren und zu diskutieren. So enthält sein Buch „Dhihniyat at-tahrîm. Salman Rushdi wa-haqiqat al-adab“, dessen zweite Auflage 1994 in Nicosia erschien, einen umfangreichen Anhang mit den Kommentaren von 16 Autoren, die seine Position im Falle Rushdie nicht oder nur bedingt teilten.  Am Anfang dieses mulhaq steht ein Beitrag  von Mustafa Tlâs.

Obwohl er auch im Westen Kritiker hatte,  hat Sadiq in Europa und Nordamerika doch immer wieder auch Unterstützer und Freunde gefunden. Diese haben dazu beigetragen, dass er besonders in den Jahren des Exils  von zahlreichen Universitäten zu Vorträgen oder Gastprofessuren eingeladen wurde. So auch – zu meiner großen Freude –  durch „meine“ Universität, die Universität Hamburg, die ihm überdies  2005 einen Ehrendoktortitel verlieh. Bereits 2004 hatte  Sadiq in Tübingen den Dr.-Leopold-Lucas-Preis und in demselben Jahr den Erasmus Preis, und 2016 in Weimar die Goethe-Medaille erhalten.

Diese Ehrungen trugen dazu bei, dass Sadiq zum gegenwärtig  wohl bekanntesten arabischen Intellektuellen geworden ist.

Vieles von dem, was er (besonders in den 1960-er und 70-er Jahren) für die arabischen Länder erhofft hatte, ist nicht eingetreten. Eher das Gegenteil. Aber die Geschichte ist nicht zu Ende.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Werner Ende

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