Sadiq al-Azm und die syrische Revolution

العربية

Rede von Mohammed Chawich

zur Erinnerungsfeier an den Syrischen Philosophen Sadiq Jalal Al-Azm. Berlin 7 Februar 2017.

Vereinigung syrischer Schriftsteller

Verehrte Freundinnen, verehrte Freunde!

Als mich mein Kollege Hussam ad-Din Mohamed kontaktierte, um mir vorzuschlagen, im Namen der Vereinigung syrischer Schriftsteller eine Rede bei der  Gedenkfeier für Sadiq Jalal al-Azm zu halten, hatte ich das Gefühl, ich müsste über die Geschichte von mindestens 60 Jahre Kultur und Politik in Syriens sprechen, und das in der nur so kurzen, mir zur Verfügung stehenden Zeit. Noch dazu war Sadiq Jalal al-Azm politisch und kulturell nicht nur auf der national-syrischen Ebene engagiert, er mischte und wirkte in der gesamten arabischen Welt mit. Blättert  man all seine Publikationen – von Büchern bis Schriften – durch, so würde man feststellen, dass die Philosophie für ihn keinesfalls die Einsiedelei gewesen war, hinter der er sich isoliert hat und nichts außer ihr sehen wollte. Im Gegenteil, er war seit den sechziger Jahren allzu gegenwärtig in der Politik des Orients und den arabischen Versuchen eines Wandels. In welchem seiner Bücher Sie auch immer hineinschauen mögen, Sie werden stets seine intellektuellen Diskussionen, Debatten und seine Konflikte mit anderen Akteuren der Öffentlichkeit in der Levante wiederfinden.

Ach, wenn mir doch diese begrenzte Zeit reichen würde, um der ganzen langen Geschichte dieses Einzelkämpfers, der sich der Sorgen der Menschen zu seinen machte, gerecht zu werden! Sadiq Jalal al-Azm entschied sich, nicht dem Konsens nachzugeben, und oft genug geriet er mit dieser oder jener politischen oder intellektuellen Richtung in Konflikt. Er stand mitten drin bei intellektuellen Auseinandersetzungen, sei es in Syrien, im Libanon oder in der palästinensischen Nationalbewegung. Und die Meinung, die er vertrat, war fern von „orthodox“, wie wir damals zu sagen pflegten. Er sah sich – wenn Sie so wollen – nicht nur in Konfrontation zur religiösen Orthodoxie, sondern auch zur Orthodoxie des Marxismus. Manche seiner Bücher fanden zum Beispiel keine Anerkennung, weil sie nicht mit dem Ansatz des „dialektischen Verfahrens“ in Einklang zu bringen waren, wie es in den alten kommunistischen Parteien und den neuen linksgerichteten Organisationen vorgeschrieben war. Ich erinnere mich noch an die Meinung eines Linken, nach dessen Einschätzung al-Azms Buch „Kritik des religiösen Denkens „ ein liberales, kein marxistisches Buch sei. Denn die marxistische Orthodoxie verlangte damals von denen, die vernünftig denken können, dass sie sich vor allem um die niedrigen Gesellschaftsschichten kümmern sollen, wohingegen  al-Azm seine ganze Zeit bemüht war, den Oberbau (d.h. die kulturellen Bestandteile der Bildung in einer Gesellschaft) unabhängig von der „Basis“, zu ändern.

Auch seine Bücher „Selbstkritik nach der Niederlage“ oder „Über die Liebe und der platonischen Liebe“ fallen nicht wirklich unter die Kategorie „wahrhaft revolutionär“ wie viele in seiner Generation die „wahre Revolution“ verstanden haben. Und es besteht kein Zweifel, dass auch die nachfolgenden Bücher nicht weniger „umstritten“ sind, weil die Bücher bei einigen, scheinbar konträre intellektuelle Richtungen, keine Zustimmung fanden. Sein Buch „Mentalität des Verbots“ zum Beispiel verärgerte sowohl die Neo-Religiösen als auch einige Agnostiker.

Al-Azm war in der Tat kontrovers! Aber unsere geistige Bühne hat es nötig, dass Dinge kontrovers behandelt werden. Um zu verstehen, wie Syrien so sonderbar fähig ist, die Ideen von al-Azm zu vertragen, von denen wir glauben, dass sie unter keinen Umständen in jedem anderen (arabischen) Land akzeptiert worden wären, müssen wir dem  historischen Block eine umfassende Studie unterziehen: Ein Block bestehend aus jenem soziokulturellen Milieu, aus dem die syrische Elite seit der Unabhängigkeit Mitte der vierziger Jahre hervorgegangen ist und der syrischen Gesellschaft eine Art von Konsens schenkte, nämlich den Konsens in der Einstellung, Vielfalt zu akzeptieren. Dieser historische Block ist in den letzten zwei Jahrzehnten aufgrund der sozio-ökonomischen Politik des Regimes auseinander gefallen. Wir wurden Zeuge des Zeitpunkts seines tosenden Zusammenbruchs, als die Revolution ausbrach und al-Azm sich auf ihre Seite stellte.  Davor, in den ersten Jahren der Regierungszeit von Bashar al-Assad, gehörte al-Azm zu jenen, die sich für die Einrichtung von Ausschüssen zur Wiederbelebung der Zivilgesellschaft einsetzten.

Nachdem die Revolution ausgebrochen war, stand Al-Azm auf ihrer Seite, anders als andere Intellektuelle, die gegen die Revolution waren unter dem Vorwand ihres religiösen Charakters, da die Demonstrationen vor den Moscheen – statt vor den Universitäten –  starteten. Al-Azm begnügte sich nicht mit der Rolle des Theoretikers oder des Schriftstellers und Denkers. Er gründete eine Privatstiftung, nämlich die Stiftung  „Jalal al-Azm für Kultur und Bildung“. Er zögerte nicht, aus seinem Privateinkommen für die Stiftung zu spenden und mit anderen NGOs und karitativen Stiftungen und Institutionen zusammenzuarbeiten. Eines der Projekte dieser Stiftung ist das Projekt „Alternative Bildung“  im Dorf „Kafr an-Nubl“ bei Idleb. Es umfasst sechs Schulen für die Ausbildung vertriebener Kinder, sowie ein Institut für Nachhilfe  in den Hauptschulfächern  und eine Berufsschule für die Schneiderlehre.

Al-Azm ist einer der Gründer der „Vereinigung syrischer Schriftsteller“. Er wurde von der Mehrheit zum Vorsitzenden gewählt und war Chefredakteur der Vereinszeitschrift „Awraq“ (Papiere). In den Diskussionen der ersten Gründungsphase nahm er eine wichtige Rolle ein und trug mit wichtigen Beiträgen bei. Er nahm regelmäßig an den Vorstandssitzungen teil.

Al-Azms Leben endete nicht als das Leben eines Philosophen, der sich mit seinen Büchern und Schriften oder seinem Computer zurückzog, sondern als Mitwirkender bei jener enormen facettenreichen, vielfältigen syrischen Volksbewegung. Mein Kollege Hussam ad-Din Mohamed, der al-Azms Nachrichten, seine Beziehung zur Heimat und der Welt stets genau verfolgte, schrieb mir folgende Worte, mit denen ich hier meine Rede beenden möchte: „So sehr waren die Bewunderer von  al-Azm über seinen Gesundheitszustand besorgt, dass sie vorschnell mehrmals seinen Tod angekündigt haben, eine Tatsache, die auf der einen Seite widerspiegelt, wie sehr man sich seiner bedeutenden Rolle in der syrischen Kultur bewusst war, auf der anderen Seite aber auch die Tendenz der Syrer zur Tragik und Melodramatik verdeutlicht.

Und es gab auch andere, die – getäuscht durch die Nachricht seines angeblichen Todes –die Gelegenheit nutzten, al-Azms Ruf zu zerstören, indem sie ihm wegen seiner Beziehung zur syrischen Revolution schaden wollten. Damit unmittelbar verbunden wollten sie auch sein Verhältnis zur Vereinigung syrischer Schriftsteller verunglimpfen, der Vereinigung, die er mit all seiner Mühe und bis zum letzten Moment seines Lebens unterstützt und dessen Grundsäulen er befestigt hat. Dies sieht die Vereinigung als eine Form des Krieges gegen das syrische Volk, das – nach nunmehr fünf Jahre seit Beginn der großartigen Revolution –  zunehmend von ausländischen Interventionen, globalen und regionalen Schwierigkeiten und alle Formen von Mord, Aushungerung, Belagerung und Massenvertreibungen ausgesetzt ist.

Al-Azm ist das Volk. Al-Azm ist die Vereinigung der syrischen Schriftsteller! Wenn er physisch von uns gegangen ist, so bedeutet es nur, dass sein Geist bei uns weiter lebt. Das ist die Philosophie von al-Azm. Und das ist das Denken, das er uns gelehrt hat.

Al-Azms Antwort auf die Tyrannen und ihre Anhänger war sehr klar: „Mit dem Volke,  bis zu meinem Tod!“

Übersetzt von Abier Bushnaq

Social media & sharing icons powered by UltimatelySocial