Demokratie in der arabischen Welt. Welche Chance hat sie? – Reinhold-Frank-Gedächtnisvorlesung 2014 von Jörg Armbruster

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Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, verehrte Familie Frank,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich möchte mich bei Ihnen zunächst ganz besonders herzlich bedanken für die Ehre diese Gedächtnisvorlesung halten zu dürfen. Ich hatte gezögert, als ich vom Kulturamt der Stadt das Angebot bekam. Einen deutschen Widerstandskämpfer zu würdigen? Das schien mir dann doch eine Nummer zu groß zu sein, obwohl Journalisten ja bekanntlich ganz gerne meinen, zu allem etwas zu sagen zu haben.

Ich möchte aber lieber auf dem Feld bleiben, auf dem ich mich zuhause fühle, dem Nahen Osten. Und ich glaube, das geht ganz gut; denn Reinhold Frank hatte für etwas gekämpft und am Ende sogar sein Leben dafür geopfert, für das sich seit ein paar Jahren auch Menschen in der arabischen Welt einsetzen. Für ein politisches System, das den Bürgern Mitsprache ermöglicht, Respekt und Menschenwürde bietet außerdem ein besseres Leben mit einer Zukunftsperspektive. Die alt bekannten autoritären Regime, die bis 2011 üblich waren in der arabischen Welt und im Augenblick wieder zurückzukehren scheinen, hatten all dies nicht möglich gemacht, weil sie es nicht möglich machen wollten. Egal ob die Herrscherfamilien Mubarak, Ben Ali oder Assad hießen oder auch noch heißen, sie verstanden ihr Land als ihr Privateigentum, saugten es aus und wurden unvorstellbar reich. Kein Geschäft ohne Assad, heißt es zum Beispiel in Syrien. Der Tunesier Ben Ali soll bei seiner Flucht in großen Koffern Schmuck, Diamanten, Geld und Gold nach Saudi Arabien mitgenommen haben. Und Gamal Mubarak, der ältere Sohn des Expräsidenten, den dieser zum Nachfolger aufgebaut hatte, hatte das Land mit einem Netz von ihm treu ergebenen Geschäftsleuten überzogen, die ihn reich machten und dabei selber wohlhabend wurden. Ein großer Teil ihrer Untertan lebten derweil dicht an der Armutsgrenze oder sogar darunter.

Gegen diese schamlose Bereicherung, die in diesem Ausmaß nur in autoritären Regimen möglich ist, waren die Menschen 2011 auf die Tahrirplätze der arabischen Länder gegangen. Wochenlang hatten sie demonstriert, friedlich und gewaltfrei zunächst. Zur Wehr setzen mussten sie sich gegen  Polizei oder angeheuerte Schlägertrupps. Zwei Diktatoren haben die jungen Menschen, Männer wie Frauen, in Tunesien und in Ägypten erfolgreich gestürzt und damit in der arabischen Welt ein neues Kapitel geschrieben, das sich heute allerdings nicht mehr so gut liest wie noch vor drei Jahren. Wie es ausgeht, können wir noch nicht sagen. Ob es ein Happy End gibt, am Ende also tatsächlich das herauskommt, was wir als Demokratie bezeichnen, bleibt erst einmal ungewiss. Salafisten oder Moslembrüder sind sicherlich alles andre als in der Wolle gefärbte Demokraten. Aber auch die mutigen Männer des Widerstands gegen die Nazis vertraten – zumindest einige von ihnen – Ansichten, die mit unseren liberalen Demokratievorstellungen nicht in Einklang zu bringen sind. Dennoch gilt mein ungeteilter Respekt ihnen wie auch jenen Menschen in der arabischen Welt, die Widerstand geleistet und sehr viel für ein besseres politisches System riskiert haben. Doch die gegenwärtigen Entwicklungen lassen ahnen, dass die Dinge sich nicht so einfach entwickeln, wie man das vor zwei, drei Jahren vielleicht noch gehofft und gewünscht hatte.

In ihrer Reinhold-Frank- Gedächtnisrede vor einem Jahr hatte die Richterin am Europäischen Gerichtshof, die Professorin Angelika Nußberger, folgendes Szenario entworfen: „Stellen wir uns vor… nach einem Attentatsversuch wäre ein Verschwörungsplan aufgeflogen, die Verschwörer wäre noch am Abend des selben Tages aufgespürt und vom Geheimdienst – ohne Haftbefehl und damit auch ohne Angabe eines Haftgrundes – verhaftet worden. Auch eine Vorführung vor einen Richter hätte nicht stattgefunden. Der anschließende Gerichtsprozess würde rechtsstaatlichen Maßstäben Hohn sprechen und im Grunde nur aus einer hasserfüllten Anklage bestehen. Der Richterspruch würde auf ein Todesurteil lauten.“

Für das Europa des 21. Jahrhunderts sei dies „kaum vorstellbar“, schrieb Frau Nußberger. Im Europa des 21. Jahrhunderts tatsächlich nicht, ich möchte aber  dieses Szenario auf die arabische Welt übertragen; denn dort ist es nicht nur vorstellbar, sondern inzwischen wieder Alltag.

Ich habe aufgehört mitzuzählen, wie viele Todesurteile ägyptische Richter gegen Moslembrüder in den letzten Wochen verhängt haben. Einige hundert dürften es sein. Die Argumentationen ähneln denen der Richter, wie Frau Nussberger sie beschreiben hat. Als Vaterlandsverräter werden die Moslembrüder abgeurteilt, als  Terroristen mit dem Tode bestraft. Alle diese Prozesse waren Schnellverfahren, in denen hunderte der Brüder summarisch schuldig gesprochen worden waren ohne Einzelfallprüfung. Immer die gleiche Anklage: Terrorismus, bewaffneter Aufstand, ohne Zeugenaussagen, ohne Ermittlungsergebnisse vorzulegen, ohne belastbare Beweise, ohne adäquate Verteidigung. Ein Teil dieser Todesurteile ist inzwischen sogar bestätigt.

Es trifft aber nicht allein die Moslembrüder, deren demokratische Gesinnung angezweifelt werden kann; dennoch darf dies keine Rechtfertigung der Schnellverfahren und Verurteilungen sein. Es trifft ebenso Liberale und Linke, also gerade jene, die als erste auf dem Tahrirplatz standen. Sie hatten in den vergangenen Monaten nichts anderes getan, als ihr demokratisches Recht auf Demonstration einzufordern, wie es sogar in  der Verfassung verankert ist. Dennoch wurden sie  zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie ein Verfassungsrecht eingefordert hatten.

Verboten ist inzwischen auch die „6.April“-Bewegung, eine der wichtigsten Initiatoren der Tahrir-Platz Demonstrationen und eine der ältesten Demokratiebewegungen des Landes überhaupt. Einer der Vordenker des Tahrirplatzes, der liberale Politiker Amr Hamzawy, beschreibt die Lage in seinem Land so:

„Es gibt eine extreme Polarisierung. Die Regierung geht nicht nur hart gegen die Muslimbruderschaft und ihre Anhänger vor. Auch alle Stimmen, die ein anderes Ägypten wünschen, die also einerseits gegen den Putsch, die Militarisierung und den ganzen Heldenkult sind, der vom Militär betrieben wird, aber auch nicht die Muslimbruderschaft unterstützen, sollen zum Schweigen gebracht werden. In den vergangenen Monaten sind sie systematisch gegen uns vorgegangen. Sie haben uns verhaftet und überziehen uns mit Prozessen, deren Anschuldigungen an den Haaren herbeigezogen sind. Zudem werden wir in den Medien verleumdet. Dabei geht es auch darum, zu verhindern, dass eine Alternative zur jetzigen Regierung entsteht.“

Auch jene Journalisten, die nicht in solchen Verleumdungskampagnen einstimmen, leben gefährdet. Der Fall der Al Jazeera-Kollegen ist hier sicherlich bekannt. Auch in diesen Prozessen wurden mit lächerlichen Begründungen hohe Haftstrafen verhängt. Oder Reporter, die im vergangenen Sommer über die Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Moslembrüdern berichten wollten und dabei verhaftet worden waren – sie sitzen immer noch in Untersuchungshaft ohne Ermittlungen, ohne Beweise vorzulegen, ohne Anklage und schließlich  ohne zu wissen, wann ihr Prozess beginnen wird. Kein Wunder, dass die ägyptische Presse heute stromlinienförmig angepasst und ohne jede Kritik die Regierungspolitik unterstützt.

Freunde, die ich im Januar bei einem Besuch in Kairo auf diese neue/alte Zeit angesprochen hatte, sagten mir, es sei schlimmer als unter Mubarak. In Gefängnissen würde wieder gefoltert, was die neue Verfassung eigentlich ausdrücklich verbietet. Es herrsche ein Klima der Einschüchterung und Angst im Land.

Das ägyptische Innenministerium plant – das ist im Juni durchgesickert – eine Ausschreibung für ein neues System, mit dessen Hilfe die sozialen Medien überwacht werden können, also Internet, facebook, twitter, youtube und möglicherweise sogar auf Mobiltelefone geladene Apps. Diese Überwachungstechnik soll  gezielt die sozialen Medien nach 26 Themen durchsuchen, dazu gehören: Diffamierung von Religion, Aufruf zu illegalen Demonstrationen, Streiks und Sitzstreiks sowie Terrorismus und Anstiftung zur Gewalt. Werden die Überwacher fündig, können Richter aus den herausgefilterten Ergebnissen Anklagen konstruieren. Genau jene Medien sollen also ausgeforscht werden, die wichtig waren für die Tahrirplatz-Rebellion. Diese Massenüberwachung – ganz offensichtlich eine vorbeugende Strategie, die verhindern soll, dass dem neuen Präsidenten a Sissi das widerfährt, was Mubarak nicht verhindern konnte, nämlich Sturz durch Bürgerprotest, der sich u.a. auch über die sozialen Medien organisiert hatte. Das Innenministerium vertraut dem ägyptischen Volk offensichtlich nicht, stattdessen traut es ihm zu, die Ägypter könnten wieder eine neue Rebellion wagen. Es behauptet zwar, diese Techniken dienen allein der Terrorismusbekämpfung, doch gemessen an dem, wie es in den vergangenen Monaten mit der Opposition umgegangen ist, haben viele Ägypter wenig Vertrauen in solche Zusicherungen.

Ohnehin gilt in Ägypten: wer Terrorist ist, legt die Regierung fest. „Der Versuch, Nachrichten auf Twitter, Facebook und in anderen Netzwerken zu unterdrücken wird Anlass zu der Befürchtung geben, dass Menschen in Ägypten ihre Ansichten nicht offen darlegen können, ohne mit Strafverfolgung rechnen zu müssen“, so die für den Nahen Osten zuständige Mitarbeiterin von Amnesty International, Hassiba Hadj Sahraoui. Es sei hier allerdings darauf hingewiesen, dass auch europäische Länder und die USA solchen Plänen nicht abgeneigt sind oder schon umgesetzt haben.

Ist also der  ägyptische Versuch sein autoritäres Regime zu überwinden und eine demokratische Regierungsform zu erproben, gescheitert? Und wodurch ist er fehlgeschlagen? Können Araber überhaupt Demokratie? Und genau so wichtig die Frage: Wollen Araber eigentlich Demokratie?

Zur letzten Frage: Ja, sie wollen, aber sie wird nicht so aussehen wie bei uns, und sie wollen sie nur, wenn diese Volksherrschaft tatsächlich die Lebensbedingungen verbessert!

So zumindest lesen sich die Unfrageergebnisse, die vor zwei Jahren das amerikanische Pew-Forschungszentrum in Washington veröffentlichte. In sechs islamischen Ländern hatte es Bürger zum Thema Demokratie befragt. Ein wichtiges Fazit lautet: in den vier untersuchten arabischen Ländern, darunter Jordanien und Ägypten, gibt es eine mehrheitliche Präferenz für eine demokratische Regierungsform. Das gilt für demokratische Rechte wie auch für demokratische Institutionen. „Sie trauen einer demokratischen Regierungsform eher zu, ihre Probleme zu lösen als einem Führer, der  mit starker Hand regiert“, schreiben die Autoren der Studie. In Ägypten und in Tunesien, den beiden klassischen Ländern des arabischen Frühlings, haben immerhin 61% der Befragten in diesem Sinn geantwortet. Im Libanon und in der Türkei, also Länder mit längeren demokratischen Erfahrungen, waren es deutlich mehr. Es scheint so, dass die Alleinherrscher, also die Mubaraks, die Ben Alis tatsächlich ausgedient haben und der neue ägyptische Präsident Abdel Fatah a-Sisi sich warm anziehen muss.

Vielleicht beschreibt die Antwort einer jungen Ägypterin diese Haltung am besten: „Wir haben Mubarak gestürzt“, sagte sie mir im Januar ins Mikrofon auf meine Bitte den Kandidaten A-Sisi einzuschätzen, „danach haben wir Moursi gestürzt, der nichts für uns getan hat. Wenn der neue nicht funktioniert, dann stürzen wir ihn eben wieder.“ Das war keine Intellektuelle vom Tahrirplatz sondern eine einfache junge Frau aus einem eher armen Viertel.

Allerdings will immer noch ein gutes Drittel der Menschen in diesen Ländern sich nicht dem Wagnis einer Parteiendemokratie aussetzen. Jeder Dritte sehnt  sich nach einem starken Mann an der Spitze des Staates. Das ist nicht wenig.

Zur Demokratie gehören natürlich Meinungsfreiheit, freier Zugang zum Internet und Pressefreiheit. Auch das hält die Mehrheit der Befragten für unverzichtbare Werte eines demokratischen Systems. Doch ein Recht auf freie Rede oder die Pressefreiheit stoßen an Grenzen, wenn es um Religion geht. Kritik an religiösen Dogmen oder gar an der Religion des Islam grundsätzlich stößt in der Öffentlichkeit schnell auf Ablehnung. Gottgewolltes kann von Menschen nicht kritisiert werden, so die vorherrschende Meinung. Die Demonstrationen gegen die dänischen Karikaturen 2005/2006 mussten daher auch gar nicht von Hasspredigern organisiert werden, die Massen mussten nicht eigens angeheizt und aufgehetzt werden. Die Empörung vieler Muslime war ehrlich gemeint. Man macht sich über Gott oder den Propheten nicht lustig, schon gar nicht dürfen dies nicht-islamische Ausländer.

Bei Glaubensfragen hört der Spaß ganz einfach auf. Hier unterscheidet sich das Demokratieverständnis der islamischen Welt fundamental von dem der westlichen. Auch bei uns kann die Verletzung religiöser Gefühle bestraft werden, doch geschieht dies höchst selten, da es in den meisten Fällen sehr schwer ist auszumachen, wo Blasphemie anfängt und wo Meinungsfreiheit aufhört.

Muslime können sich eine derartig strikte Trennung von Religion und Politik kaum vorstellen, wie sie in Frankreich zum Beispiel am konsequentesten umgesetzt ist. Der Islam wölbt sich über die Politik genauso wie er den gesamten Alltag der Menschen in den islamischen Ländern einrahmt. Das hat nichts mit einer Sehnsucht nach einem Gottesstaat zu tun, auch nicht nach einem Kalifat, wie es kürzlich der Chefterrorist der ISIS, Baghdadi, ausgerufen hat. Der Islam ist sicheres Wertegerüst und vertraute Orientierungshilfe in einem nicht leicht zu überschauenden Leben. Daher hat eine erklärt religionsferne Partei bei Wahlen in arabischen Ländern kaum eine Chance. Folglich ist der Hinweis auf die Sharia als Quelle der Gesetzgebung in fast allen arabischen Verfassungen Pflicht. In manchen arabischen Gesellschaften  ist ein solcher Artikel nicht viel mehr als eine ethische Leitlinie aber kein buchstabengetreu zu befolgende Gesetz, andere nehmen ihn ernster.

Tunesien ist eines der wenigen arabischen Ländern, die ganz auf eine solche religiöse Verpflichtung des Gesetzgebers verzichtet haben. In der Präambel der neuen Verfassung heißt es nur, das tunesische Volk folge den Lehren des Islam, es findet sich außerdem die ausdrücklich Anerkennung der universellen Prinzipien der Menschenrechte, der Islam wird auf „Offenheit“ und „Toleranz“ verpflichtet. Verboten ist zum Beispiel, jemanden als „Kafir“, also als Ungläubigen zu diffamieren. Gemeint ist damit auch ein vom Glauben abgefallener, ein Apostat also, der nach der Scharia eigentlich mit dem Tode bestraft werden müsste. Zu verdanken ist diese moderne Verfassung der Hartnäckigkeit der säkularen Parteien. Der Enahda-Partei, den tunesischen Moslembrüdern also, war es nicht gelungen, den Islam als Quelle der Rechtsprechung im Verfassungsentwurf zu verankern.  Vielleicht  haben die tunesischen Muslimbrüder den ägyptischen Putsch gegen Mursi im vergangenen Jahr als  eine Warnung verstanden.

In Ägypten war der Islambezug  in der Verfassung der Muslimbrüder für die große Mehrheit der Wähler das geringste Problem. Das Land am Nil hat daher noch einen langen Weg vor sich, bis es zu einem vergleichbaren liberalen Denken in Sachen Religion kommt, wie es Tunesien offensichtlich möglich ist. Die ägyptische Gesellschaft versteht sich als tief religiös. So glauben rund 80% der Menschen am Nil, dass der Islam einen positiven Einfluss auf die Politik hat, die Politiker also gut daran tun, die Regeln des Korans zu befolgen. Das hat sicherlich auch damit etwas zu tun, dass die Ägypter Politik in erster Linie als ein korruptes Geschäft zum Vorteil des Politikers kennengelernt haben und nicht als ein Handeln zugunsten des Gemeinwohls. Politiker bereichern sich, Polizisten sind bestechlich, Richter wollen gekauft werden, Staatsbeamte werden nur gegen Bargeld aktiv – das sind die Alltagserfahrungen der Menschen nicht nur am Nil. Der Koran verbietet aber jede Form solcher Habgier und verlangt vom Herrscher eine Politik, die sich an Gemeinnutz orientiert. Einer der zentralen Begriffe im Islam ist Gerechtigkeit. Deswegen verlassen sich Menschen lieber auf die seit mehr als tausend Jahren festgeschriebenen Dogmen ihrer Religion
als auf Politikerversprechen oder Parteiprogramme.

Die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer schreibt in ihrem Buch „Demokratie im Islam“: „Die Suche nach Gerechtigkeit ist ein klassisches Anliegen europäischen wie islamischen Denkens, das in der Moderne nicht erfunden werden mußte, um im Kampf der Kulturen zu bestehen…..Zeitgenössische Muslime sehen in Gerechtigkeit den alles überwölbenden und integrierenden Grundwert des Islam schlechthin.“ Mit anderen Worten: Ungerechtigkeit ist Sünde, gerechtes Handeln dagegen eine Pflicht, die Gott den Menschen auferlegt hat. Korruption, Unterdrückung, Betrug, Respektlosigkeit – dieses Sündenregister der Mubaraks und Assads ist nichts anderes als ein fundamentaler Verstoß gegen koranische Vorschriften. „Fahr zur Hölle Mubarak“ – ein Schlachtruf auf dem Tahrirplatz, den man so gesehen sogar wörtlich nehmen kann.

Noch ein Unterschied zum säkularen westlichen Politikverständnis: In diesem gewissermaßen göttlichen Konzept von Gerechtigkeit steckt zwar die von Gott gewährte Gleichwertigkeit der Menschen nicht aber automatisch die soziale Gleichheit. Männer und Frauen sind in diesem Konzept gleichwertig aber nicht zwingend gleichgestellt, sie können es aber. Nach der schon mehrfach zitierten Pew-Umfrage unterstützen in Ländern wie Ägypten und Jordanien nur zu 60% der befragten Männer die völlig Gleichstellung von Mann und Frau. Im Libanon und in der Türkei sind die Ergebnisse allerdings wesentlich positiver für die Frauen. Diese Ungleichheit sollte man aber nicht allein dem Islam anlasten. Schon in vorislamischer Zeit ließen sich die Männer gerne von ihren Frauen bedienen. Dieser patriarchalische Anspruch löst sich heute in den Städten schneller auf als auf dem Land.

Doch ein Staat, der sich über  von Gott gegebenen Tugendvorschriften definiert, läuft Gefahr die Grenzen der Freiheit sehr eng zu ziehen, im Bereich sexueller Freizügigkeit  etwa oder bei künstlerischer und akademischer Freiheit und sicherlich auch bei dem Recht auf öffentliche Kritik an Religion, Religionsführern oder religiösen Dogmen. Gerade unter Moslembrüdern wird Moral als Maßstab für öffentliche Politik wie auch für private Lebensführung besonders groß geschrieben. Wenn aber mit „Sittenlosigkeit“ oder „Unmoral“ argumentiert wird, dann ist Tugendzensur nicht weit. Allerdings – schon seit Mubaraks Zeiten müssen in Ägypten neue Bücher oder Filme der Zensurbehörde der Al Azhar-Moschee  vorgelegt werden. Erst wenn diese oberste Instanz des sunnitischen Islam sie freigegeben hat, dürfen sie in Buchhandlungen verkauft und in Kinos vorgeführt  werden. Ägypten bot  also ein gutes Fundament für die Pläne der Moslembrüder, aus dem Land einen „Tugendstaat des wahren Islam“ zu formen. Bevormundung der Bürger durch den Staat war also Teil des Regierungsprogramms der Moslembrüder in Ägypten und ist es noch, in den Ländern, in denen sie an die Macht kommen.

Erlauben Sie mir bitte einen kleinen Exkurs: Wenn ich hier pauschal von Islam rede, dann versuche ich mich mit der Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen Mainstream-Islam an der Tatsache vorbei zu mogeln, dass es in Wirklichkeit eine Vielzahl von Interpretationen dieser Religion gibt, die auch zu unterschiedlichen Gaubensentwürfen führen können. Der saudische Wahabismus ist völlig demokratieuntauglich, der sunnitische Islam, wie er in der Türkei oder in dem größten islamischen Land, in Indonesien, praktiziert wird, hat keine grundlegenden Schwierigkeiten mit Demokratie und steht dieser Entwicklung eher nicht im Weg.

Man sollte aber auch die Rolle der Religion nicht überbewerten. Sie spielt eine wichtige Rolle im politischen und gesellschaftlichen Leben der Menschen in den islamischen Ländern, aber sie ist nicht die einzige. Dass sich Demokratie in den meisten dieser Länder bisher nicht durchgesetzt hat, hat in erster Linie hausgemachte Gründe, die mit Religion nur wenig zu tun haben.

Da sind einmal die verheerende Korruption und der weit verbreitete Nepotismus in den arabischen Gesellschaften. Auf der Skala der unabhängigen Antikorruptionsorganisation Transparency International gehören die meisten arabischen Länden zu den korruptesten weltweit. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür: „wasta“. Ohne wasta geht nichts, kein Beruf, keine Geschäft, keine Prüfung. Wasta heißt grob übersetzt Beziehung. Man muss also immer die richtigen Menschen kennen, will man etwas erreichen. Die beste Prüfung nützt nichts später bei der Berufssuche, wenn man kein wasta hat. Wasta kostet natürlich Geld. Wer hilft, hält die Hand auf. Es gewinnen am Ende nicht die Besten sondern die, die am meisten zahlen können. Leistung lohnt sich nicht in einer solchen Gesellschaft. Dies – vielleicht auch ein Grund, warum so wenig Erfindungen und Entwicklungen aus der arabischen Welt kommen.

Daran ist vor allem aber das miserable Bildungs- und Ausbildungssystem schuld. Schulklassen mit mehr als 50 Schülern sind auf dem Land keine Seltenheit. Schlecht bezahlte Lehrer, die morgens Schülermassen unterrichten, bieten am Nachmittag im gleichen Fach individuellen Nachhilfeunterricht an, nur so hat ein ägyptischer Schüler eine Chance etwas zu lernen. Ohne solche Zusatzstunden, die natürlich Geld kosten, würde er die Prüfungen nicht bestehen. Wer nicht zahlen kann, kommt nicht weiter. Unterrichtsziel ist nicht selbständiges Denken sondern Auswendiglernen. Der Arab Human Development Report, eine aufwendige Untersuchung zur Lage des Bildungssystems in der arabischen Welt, kam schon 2004 zum Ergebnis: „…den Schülern wird Unterwürfigkeit eingetrichtert. Dieses Lernmilieu lässt keinen freien Dialog und aktives Forschen zu und eröffnet daher kaum die Möglichkeit von freiem Denken und Kritikfähigkeit.“ Selbständiges Denken ist aber eine wichtige Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Mehrere Millionen Kinder gehen überhaupt nicht zur Schule. Das aber hat zur Folge, dass immer noch 43 Prozent der 280 Millionen Araber in 22 Ländern weder lesen noch schreiben können.

Sind Araber also doch nicht demokratietauglich? Es wäre fatal und falsch nur das  aus diesen deprimierenden Ergebnissen zu folgern. Immerhin waren es arabische Sozialwissenschaftler, die diese Untersuchungen in ihren eigenen Gesellschaften durchgeführt haben im Auftrag der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen, UNDP. Arabische Intellektuelle kennen also die Rückständigkeit arabischer Gesellschaften. Und sie haben reagiert. Zum Beispiel auf dem Tahrirplatz. Eine Verbesserung der Bildungschancen war eine zentrale Forderung der Demonstranten; denn sie wissen, eine ungebildete Masse lässt sich leicht manipulieren und steuern. Je besser die Menschen ausgebildet sind, desto eher können sie auch Politik hinterfragen und desto stärker wollen sie an ihr beteiligt werden. Doch von einem solchen Bildungssystem ist die arabische Welt weit entfernt.

Also: Analphabetentum, die gewaltigen Unterschiede zwischen Arm und Reich, Korruption bis in die Spitze der Regierungen, die Überbevölkerung der Städte und die hohen Geburtenraten und daraus folgend der Druck auf den Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit, das sind die Kräfte, die auf die arabischen Gesellschaften einwirken. Kann unter solchen Bedingungen überhaupt so etwas wie Demokratie entstehen? Oder ist Demokratie schlicht ein Luxusprodukt des wohlhabenden Westens, der für sich die meisten dieser Probleme mehr oder weniger gelöst hat? Sind vielleicht die alten patriarchalischen Regierungsformen nicht doch angemessener?

Ich denke nein; denn letztendlich haben gerade diese Nassars, Sadats, Mubaraks, Ben Ali oder Assads und wie sie alle heißen, die Gesellschaften im Nahen Osten in ihr Unglück gestürzt. Sie haben dies bewusst gemacht, weil sie wissen ungebildete Massen lassen sich leichter lenken. Bildung ist für autoritäre Herrscher eine Gefahr. Daraus folgt aber: der Westen darf nicht aufhören, demokratische Bewegungen in der arabischen Welt zu unterstützen.

Warum aber werden häufig Angebote des Westens demokratische Entwicklungen zu fördern so selten angenommen? Warum misstraut der Nahe Osten dem Westen? Der Westen hat mit seiner Nahost-Politik diesem Misstrauen reichlich Nahrung gegeben. Seine Eroberungsfeldzüge angefangen bei Napoleon, über die Kolonialzeit und die Gründung des Staates Israel bis zum Irakkrieg von Bush Junior werden in der arabischen Welt als Verschwörungen des Westens gegen den Islam und die arabische Identität erlebt. Das gleiche gilt für den Krieg in Afghanistan. Auch dies sei ein Krieg gegen den Islam, so meinen zumindest viele Muslime. Außerdem predigt der Westen gerne Demokratie, fordert die Einhaltung von Menschenrechten, löst aber diese hohen Ansprüche im Umgang mit der arabischen Welt selber selten ein. „Doppelmoral“ nennen arabische Intellektuelle dieses Verhalten.

Einer dieser Vorwürfe lautet zum Beispiel: Israel darf – fast – alles, zum Beispiel fremdes Land besetzen oder bombardieren, ohne dass dies vom Westen verhindert wird, verhält sich ein arabische Land so, dann rüstet der Westen sogar zum Krieg. Das war ein beliebtes arabische Argument nach der Besetzung Kuwaits durch den Irak.

Und als einen Gipfel der Scheinheiligkeit des Westens hat sich ein Ereignis tief in das kollektive Gedächtnis der Menschen des Mittleren Ostens eingegraben, das nun schon 60 Jahre zurückliegt.

Der Sturz des iranischen Premierministers Mossadegh durch Großbritannien und die USA. Das war 1953. Der Grund: er hatte die bis dahin von England und den Vereinigten Staaten kontrollierte iranische Ölindustrie verstaatlicht. Beide Parlamentskammern in Teheran hatten der Verstaatlichung zugestimmt.  Also ein durchaus demokratischer Prozess. Die Iraner wollten endlich über ihren Reichtum selber verfügen. Das aber hatten diese beiden öldurstigen Länder nicht hinnehmen wollen. Der britische Geheimdienst und die CIA inszenierten einen gewaltsamen Putsch. An die Stelle des aus seinem Amt gejagten Premiers setzten die beiden Putschländer den Alleinherrscher Shah Reza Pahlewi wieder ein, der natürlich die iranische Ölindustrie an die britischen und amerikanischen Konzerne zurückgab.

Kein Wunder, dass viele Menschen im Mittleren Osten den Glauben an die Freiheitsversprechen des Westens verloren haben. Stattdessen zogen sie den Schluss: der Westen verkauft sich zwar gerne als Hüter von Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechten, tatsächlich aber ist  Demokratie in den Ländern des Nahen Ostens für ihn nur dann akzeptabel und gut, wenn sie keine Interessen der westlichen Welt verletzt.

Und als sich nach der amerikanischen Irakinvasion 2003 sehr schnell herausgestellt hatte, dass sich Freiheit nicht mit Hilfe von Panzern und Raketen verbreiten lässt, und dass die US-Truppen statt Demokratie ein Desaster im Irak ausgelöst hatten, da versuchte Bush durch seine große Demokratieoffensive im Nahen Osten den Schaden einzudämmen. Doch er machte ihn nur größer. Die diversen Autokraten waren nicht eben begeistert von der amerikanischen Forderung mehr Demokratie in ihren Ländern zuzulassen, das lässt sich noch nachvollziehen. Bush stieß aber auch bei Reformkräften auf Ablehnung, von denen er gehofft hatte, sie als Partner zu gewinnen.

Zum Beispiel der jordanische Politiker Hasan Abu Nimah. In der Jordan Times beschrieb er am 10. März 2004 die meisten arabischen Regierungen als korrupte, despotische, ihre Macht missbrauchende, als auf skandalöse Art inkompetente Autokraten. Für Abu Nimah sind so gut wie alle Regime im Nahen Osten klare Fälle für Regimewechsel. Warum aber für ihn, den Demokraten, das Angebot der amerikanischen Regierung damals seine Reforminitiative  zu unterstützen, nicht in Frage kam, begründete er in dem Artikel folgendermaßen. Die Amerikaner verfolgten ganz andere Ziele mit dieser Demokratieinitiative, als sie vorgaben, schrieb er in seinem Leitartikel: „Die Amerikaner wollen nicht mehr Demokratie in der arabischen Welt, sie wollen Politiker domestizieren, damit sie tun, was der Westen ihnen sagt und aufhören, die Rechte der Palästinenser einzuklagen und aufhören Forderungen an Israel zu stellen.“

Dieses Zitat zeigt wie tief das Misstrauen der arabischen Intellektuellen gegenüber dem Westen sitzt.  Der Westen verstand Bushs Kampagne als notwendige Demokratieunterstützung, der Nahe Osten sah in diesen Plänen einen schlecht getarnten Versuch die Herzen und Köpfe der Araber zu okkupieren.  Der Autor ist kein antiamerikanischer Linker, kein Dauerdemonstrant vor einer amerikanischen Botschaft, er verbrennt auch keine israelischen Flaggen, Abu Nimah  war vielmehr ein enger Vertrauter des damaligen jordanischen Königs Hussein, der ihn als Botschafter zur UN und in verschiedene europäische Länder entsandt hatte.

Bleiben wir beim Stichwort „Demokratietransfer“. Am 4. Juni 2009 versuchte der neue US Präsident Obama den Scherbenhaufen im Nahen Osten wieder zusammenzukitten, den sein Vorgänger Bush ihm und der Welt hinterlassen hatte. In einer groß angekündigten Rede in Kairo wollte er Misstrauen abbauen, Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der islamische Welt zurückgewinnen. Unter anderem forderte er das Ende der israelischen Siedlungspolitik, um so den Weg zu einer Zweistaatenlösung zu öffnen. Die meisten Reaktionen in der arabischen Welt waren zunächst positiv.

Schon ein Jahr nach dieser bemerkenswerten Rede äußerten sich laut einer Umfrage in sechs arabischen Ländern die Menschen  wieder skeptisch, sie erwarteten nichts von der amerikanischen Außenpolitik. Und heute, 5 Jahre später, hat sich immer noch nichts getan, weder ist der Siedlungsbau gestoppt, noch wird über Maßnahmen gegen diesen völkerrechtswidrigen Landraub nachgedacht. Und die letzten Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung sind an der starren Haltung Israels gescheitert, so sagen amerikanischen Politiker selber. Stattdessen töten israelische Kampfflugzeuge und Soldaten in Gaza hunderte Palästinenser, ohne dass ein Aufschrei im Westens zu hören ist. So die Wahrnehmung der Araber. Die Hamas, nicht unbedingt beliebt weder bei den Regierunen noch bei einem Großteil der Bevölkerungen, schlägt politischen Profit aus ihrer Opferrolle.

Navid Kermani hat dieses Misstrauen gegenüber dem Westen so beschrieben: „Die Menschen in der islamischen Welt … werfen dem Westen nicht seine Standards vor, sondern dass er sie nicht anwendet, wenn er Diktaturen, korrupte Regime oder den Terror einer Staatsgewalt deckt. Die  islamische Kultur fühle sich der westlichen auch nicht überlegen, wie vielfach im Westen behauptet wird: „Der Unmut gründet gerade nicht in einem Gefühl der Überlegenheit, sondern in der Verbitterung über diese Zurückweisung durch den Westen, die immer häufiger in Ressentiments umschlägt.“

Was kann also getan werden? Ich denke, Deutschland kann sehr viel tun. Zunächst einmal darf man aber nicht vergessen: Frankreich brauchte hundert Jahre, ehe es nach der französischen Revolution demokratisch wurde, in den USA durften Frauen erst 150 Jahre nach der Staatsgründung wählen, und Deutschland benötigte zwei Anläufe, ehe es diese stabile Demokratie, wie wir sie heute kennen, entwickelt hatte. Und das worauf wir heute mit Recht stolz sind, hatten uns die Alliierten verordnet. Deutsche Fundamentalkritiker, die das islamische Demokratieverständnis ablehnen und die arabische Demokratiefähigkeit anzweifeln, sollten das immer im Hinterkopf haben.

Deutschland genießt hohes Ansehen im Nahen Osten; denn es war dort nie Kolonialmacht und nie an Kriegen dort beteiligt. Die Menschen in den arabischen Ländern registrieren ein solches Verhalten sehr genau, allerdings auch unsere engen Beziehungen zu Israel. Dennoch gilt: Deutschland kann sein hohes Ansehen und seine Glaubwürdigkeit nutzen, um in einem neuen Nahen Osten Politik mitzugestalten.

Deutschland sollte zum Beispiel seine wohlwollende Politik gegenüber den autoritären Machthabern im Nahen Osten überdenken. Schließlich hat der Westen einiges wiedergutzumachen bei den Arabern, ist er doch mit den alten Regimen gut gefahren und hatte sie erst in Frage gestellt, als deren Sturz absehbar war. Heute ist die alte Repression wieder zurückgekehrt. Aber den Abbruch der Beziehungen zu verlangen, wäre unrealistisch und auch nicht klug. Die Welt ist vernetzt, daraus kann man sich nicht einfach verabschieden. Dennoch die Förderung zivilgesellschaftlicher Kräfte sollte intensiviert werden auch gegen den Willen der neuen Obrigkeiten. Die politischen Stiftungen hatten da schon in den vergangenen Jahren eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt.

Noch etwas anderes brauchen Länder wie Tunesien. Wir in Deutschland haben zwar unsere Demokratie zum einen den westlichen Alliierten zu verdanken, dann zweifellos auch den klugen Vätern des Grundgesetz, die eine Verfassung mit klaren und eindeutigen Regeln formuliert und Institutionen geschaffen haben, die das Grundgesetz schützen und verteidigen. Wir haben unsere stabile Demokratie aber noch einer anderen Wohltat der Alliierten zu verdanken, ohne die sich die Bürger möglicherweise diesem demokratischen Experiment verweigert und schnell wieder nach einem starken Mann gerufen hätten. Schließlich hatte es in Deutschland vor .45 keinen Tahrirplatz gegeben, keine Massenprotest gegen Hitler also. Mutige Männer wie Reinhold Frank waren die  Minderheit. Die meisten Deutschen hatten sich als Jasager, Leisetreter, Stillschweiger, Mitläufer, Angepasste arrangiert, natürlich gab es auch das große Heer echter Nazis. Als das Grundgesetz am 23. Mai 1949 in Kraft trat, ging kein Sturm der Begeisterung durch die neue Republik, kein Aufatmen, kein Gefühl der Befreiung. All das kam später. Dass sich der demokratische Weg am Ende durchgesetzt hat und erfolgreich war, haben wir einem anderen Geschenk der Alliierten zu verdanken. Ich meine den Marshallplan. Er war gewissenmaßen die wirtschaftliche Leitplanke, die uns vom demokratischen Kurs überzeugt hatte. Wer genügend zu essen auf dem Tisch hat, gibt gerne den Demokraten.

Die Lebensbedingungen in den Ländern des arabischen Frühlings haben sich in den letzten drei Jahren aber dramatisch verschlechtert. Arbeitslosigkeit wächst, Investitionen auch ausländische fehlen, Touristen bleiben aus. Hotels und Restaurants stehen leer. Sollten sich diese Länder wirtschaftlich nicht stabilisieren, dann nützt auch die schönste Verfassung nichts. Die Menschen lernen nämlich: Demokratie lohnt sich nicht, Demokratie macht nicht satt und schafft keine Arbeitsplätze. Dann werden es bald nicht mehr nur 30% der Ägypter sein, die Sehnsucht nach einem starken Mann an der Spitze des Staates haben sondern vielleicht demnächst doppelt so viele. Auch hier könnte die EU eine sehr wichtige Aufgabe übernehmen, Investitionen fördern, Bildungs-  und Ausbildungsprogramm finanzieren und zum Beispiel Zollschranken weiter abbauen.

Und sie darf nicht schweigen angesichts der neuen Repression in Ländern wie Ägypten. Die Bundesregierung muss den Regierungen dieser Länder deutlich machen, dass sie zum Beispiel nicht bereit ist, Gerichtsverfahren gegen Oppositionellen, die jeder Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechen, stillschweigend hinzunehmen, egal welcher Couleur diese Oppositionellen sind. Andernfalls setzt sie sich dem Verdacht aus, dass sie die Lehren aus Schicksalen wie dem von Reinhold Frank nicht wirklich gelernt hat.


Jörg Armbruster,  25.7.2014

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