Zwei Jahre nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali und seines ägyptischen Amtskollegen Mubarak steht der Umbruch in der arabischen Welt und im weiteren Nahen und Mittleren Osten immer noch am Anfang. Die arabische Welt mag seit Januar 2011 ihre historischen Stunde erleben, aber wir dürften davon gerade einmal die ersten Minuten gesehen haben. Die Region wird, wenn man sich die spezifischen Herausforderungen, aber auch die Erfahrungen anderer Regionen anschaut., deren Staaten eine Systemtransformation durchgemacht haben, sicherlich eine, vielleicht auch zwei turbulente Dekaden vor sich haben.
„Turbulenz“ dürfte die Dynamiken wohl am ehesten beschreiben, die die Region zu erwarten hat. Einige Staaten vermitteln den Eindruck, dass die Stürme der Veränderung zumindest zeitweise an ihnen vorbeiziehen könnten, während andere offenbar in deren Zentrum stehen. Aber kein Staat der Region – von Marokko bis Iran- wird von diesen Turbulenzen unbeeinflusst bleiben; ihre Auswirkungen dürften zudem auch über die Region hinausreichen. Und wer heute etwa glaubt, dass einzelne Länder in der Region, die dem Sturm bislang wiederstanden haben, auch noch in zehn oder fünfzehn Jahren so aussehen könnten wie heute, der täuscht sich – oder andere – vermutlich gewaltig. Wir können die Zukunft der einzelnen Länder in der arabischen Welt nicht prognostizieren. Aber wir können einen Blick auf die wichtigsten Treiber, die entscheidenden Faktoren der aktuellen Turbulenzen werfen, die es zu beobachten gilt, wenn wir die zukünftige Entwicklung und die regionalen Dynamiken zumindest verstehen und vielleicht – als Europäer- auch mit ihnen interagieren wollen.
„It´s the demography, stupid!”
Zunächst sind hier die sozio-demographischen Entwicklungen zu nennen. „It´s the demography, stupid!“, könnte man in Abwandlung eines amerikanischen Wahlkampslogans rufen. Die Revolten in der arabischen Welt sind weitestgehend von einer Generation angestoßen und getragen worden: den 20-bis 35jährigen. Diese Alterskohorte, die Babyboomer der arabischen Welt, ist größer als die entsprechende Generation vor und auch als die nach ihr.
Sie ist besser ausgebildet und besser vernetzt als die Vorgängergeneration, aber sie hat weniger Chancenauf wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe als sowohl die entsprechenden Jahrgänge vor und die entsprechenden Jahrgänge nach ihr. Zwei Jahre nach dem Beginn der Revolten und Umbrüche in der arabischen Welt hat sich die sozio-ökonomische Situation für diese Generation noch nicht verbessert. Kein Wunder, dass es deshalb auch heute in Tunesien wieder gewerkschaftlich unterstützte Proteste in jenen Gebieten und aus jenen sozialen Gruppen gibt, die maßgeblich die Revolte gegen Ben Ali und das alte System angestoßen haben. Revolutionäre Generationen sind per Definition nicht geduldig. Deshalb fällt besonders ins Gewicht, dass diese Generation bislang auch politisch nicht zu den großen Gewinnern der Umbrüche gehört. So haben in Ländern, wo es seither freie Wahlen gegeben hat- also in Tunesien, Ägypten, Marokko und Libyen- eben gerade nicht diejenigen die Wahlen gewonnen, die sie ermöglicht haben, sondern politische Bewegungen, die auf die Revolten erst aufgesprungen sind, als diese bereits in voller Fahrt waren, vor allem natürlich die Muslimbrüder und andere politisch-islamische Gruppen. Die unruhige Generation der „2011er“ ist aber weiterhin da; sie werden gewählte und nichtgewählte Autoritäten herausfordern, wenn diese nicht liefern oder den Anschein erwecken, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen. Ägypten hat genau dies seit Herbst 2012 wieder erlebt.
Vorhut Ägypten, Nachhut Saudi-Arabien
Diese Generation, die strukturell für einen Bruch mit den überkommenen politischen und sozialen Verhältnissen in den meisten Ländern der Region steht, ist allerdings nicht nur dort präsent, wo politische Systemwechsel eingeleitet worden oder Regime unter Druck geraten sind-also vornehmlich in Ägypten, Tunesien, Libyen, Marokko, Jemen oder Syrien. Vielmehr wird die mit einer gewissen Zeitverzögerung auch in anderen Staaten in Erscheinung treten.
Saudi-Arabien etwa schickt derzeit 110000 junge Leute, darunter 30000 Frauen, zum Studium ins meist westliche Ausland, die nach und nach zurückkommen und nicht notwendig mit den Lebens. Und Arbeitsverhältnissen zufrieden sein werden, die sie in ihrem Heimatland vorfinden. Quer durch die Region, auch in den sozialkonservativen Golfmonarchien, werden die Gesellschaften individualistischer; traditionelle Hierarchien in den Familien und damit auch in Gesellschaft und Staat werden in Frage gestellt. Familien haben weniger Kinder; der und die Einzelne hat dank neuer Kommunikationstechnologien ganz andere Möglichkeiten, sein soziales Bezugsfeld zu organisieren; und erstmals sind in Staaten wie Saudi-Arabien junge Frauen nicht nur besser ausgebildet als ihre Mütter, sondern auch als ihre Väter.²
Der sogenannte Jugendüberhang (youth bulge) in der arabischen Welt ist zunächst natürlich ein Unruhefaktor; er stellt gleichzeitig allerdings auch einen enormen wirtschaftlichen Vorteil dar, der Dynamik und Wachstum verspricht, wenn diese Generation die Chance erhält, sich angemessen wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch zu beteiligen.
Der neue Pluralismus des politischen Islam
Wenn wir auf die konkreten Akteure und politischen Bewegungen schauen, die die Zukunft der arabischen Welt maßgeblich prägen werden, fällt der Blick zu Recht vor allem auf dem politischen Islam. Bereits 2011, nach dem Beginn der Revolte, konnte man erwarten, dass die arabischen Staaten nun pluralistischer und tendenziell demokratischer, gleichzeitig aber auch konservativer werden:³ Die Wahlen in Tunesien, Ägypten und Marokko haben gezeigt, dass der politische Islam bzw. politisch-islamische Parteien eine breite soziale Basis haben. Das dürfte auch dann so bleiben, wenn Parteien wie die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der ägyptischen Muslimbrüder oder die Nahda-Partei in Tunesien bei den nächsten Wahlen Stimmen verlieren, weil ihre politischen Gegner sich besser organisieren und die islamischen Parteien als Regierungsparteien an Glanz verloren haben. In jedem Fall hat dieses Parteienspektrum nun, je nach Land allein oder in Koalitionen mit anderen politischen Gruppierungen, die Chance und steht gleichzeitig vor der Herausforderung zu zeigen, dass es besser regieren kann als seine Vorgänger.
Politisch besonders interessant- und für die mittelfristige Entwicklung pluralistischer Strukturen auch förderlich- sind vor allem die Entwicklungen innerhalb des politischen Islam. Mit der Öffnung der politischen Systeme ist der organisierte politische Islam auch selbst pluralistischer geworden. Der Mainstream des politischen Islam, wie die Muslimbruderschaft ihn repräsentiert, steht nun unter dem Konkurrenzdruck anderer islamischer Gruppierungen, die sich „rechts“ oder „links“ von ihm positionieren und zum Teil- wie insbesondere die streng fundamentalistischen, zum Teil am saudischen Islammodell orientierten Salafisten-erstmals als Parteien organisieren.
Wer regiert, muss liefern: Präzedenzfall Ägypten
Wo islamische Parteien politische Verantwortung übernehmen, müssen die liefern. Ägypten mit einem knapp, aber frei gewählten Präsidenten aus der Muslimbruderschaft, ist auch hier der große Testfall: Präsiden Mursi und seine Regierung müssen Erfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik aufweisen, sie müssen selbst gegen dschihadistische, terroristische Kräfte vorgehen, die im Namen des Islam zu handeln behaupten; sie müssen die internationalen Beziehungen einschließlich des Verhältnisses zu Israel gestalten; sie müssen mit dem Militär und den alten Eliten umgehen, müssen gleichzeitig Entscheidungsfähigkeit beweisen und gesellschaftlichen Konsens schaffen und wollen zudem die jeweils nächsten Wahlen gewinnen. Gerade Ägypten wird daher zeigen, in welche Richtung der Mainstream des politischen Islam sich entwickelt. Eine Entwicklungsoption führt in Richtung eines pragmatischen Konservatismus, der innen- wie außenpolitisch auf Stabilität,, Ausgleich und Evolution setzt, eine andere in Richtung autoritärer Parteienherrschaft, der wie die aus arabisch-nationalistischer Tradition stammenden Vorgänger wesentliche Teile der Gesellschaft ausschließt und zudem riskiert, sich international zu isolieren.
Schon jetzt stehen sehr unterschiedliche Modelle eines regierenden politischen Islam – das der Muslimbrüder in Ägypten, das saudisch-wahabistische, das iranische oder auch das der AKP in der Türkei- in harter Konkurrenz zueinander; nicht nur in einzelnen Ländern wie Tunesien ´, Ägypten, Marokko, Libyen oder Palästina, sondern auch als Teil der regionalen Auseinandersetzungen um Einfluss und Dominanz:
Türkei versus Ägypten, Saudi-Arabien versus Iran;
Neue geopolitische Kräfteverhältnisse und Konkurrenzen
Die regionale Geopolitik oder die Konflikt- und Kooperationsdynamiken zwischen den Staaten der Region sind selbst eine wesentliche Treibkraft der Turbulenzen. Mit einer zugegebenermaßen etwas groben Feder lassen sich hier drei Phänomene skizzieren.
Erstens verändern die ursprünglich lokalen Aufstände, Revolutionen und Umbrüche die regionalen Kräfteverhältnisse und die regionale Politik. Politische Veränderungen und gesellschaftlicher Veränderungsdruck in den einzelnen Staaten lassen auch neue Konkurrenzen um Einfluss und Position im regionalen System und dessen Gestaltung entstehen. Dazu gehören auch Versuche, externe Akteure wie die USA und die europäischen Staaten, die selbst noch mit einiger Mühe nach Orientierung in dieser Region suchen, in die regionalen Auseinandersetzungen hineinzuziehen-oftmals, wie sich vor allem am syrischen Beispiel zeigen lässt, gegen deren politische Instinkte, die eher dafür sprechen, sich nicht in neue Kriege und Bürgerkriege im Nahen und Mittleren Osten involvieren zu lassen.
Die wichtigsten regionalen Spieler werden dabei die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien und Iran sein.
Ankara hat zweifellos die Chance, erheblichen Einfluss in Nordafrika und im Nahen Osten zu gewinnen, wenn es seine eigene Kraft nicht überschätzt. Die Türkei ist gesellschaftlich und wirtschaftlich sehr gut in den arabischen Staaten vernetzt und politisch, gerade mit einer islamisch gefärbten AKP-Regierung, prinzipiell gut aufgestellt, um neue Partnerschaften zu begründen. Die Türkei und der türkische Entwicklungsweg gelten für viele Akteure in den arabischen Staaten als Modell, allerdings sehen unterschiedliche gesellschaftliche und politische Kräfte- das Militär etwa, die islamischen Parteien oder die Unternehmerschaft – auch sehr unterschiedliche Türkeimodelle vor sich. Der türkische Einfluss in der Region wird insbesondere dann zunehmen, wenn es, auch mit türkischer Hilfe, gelingen sollte, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden und dort einen friedlichen Transformations- und Wiederaufbauprozess einzuleiten.
Saudi-Arabien bleibt schon aufgrund seiner dominanten Stellung auf der arabischen Halbinsel und seines wirtschaftlichen Gewichts ein für die gesamte Region bedeutender Akteur. Allerdings sollten von Saudi-Arabien, anders als in den ersten zehn Jahren dieses Jahrhunderts, wenige gestalterische Initiativen für die Region oder zur Beilegung regionaler Konflikte erwartet werden.
Riad versucht derzeit eher, die Dynamiken des politisch-gesellschaftlichen Wandels zu begrenzen und insbesondere die Monarchien der Halbinsel sowie Jordaniens zu konsolidieren. Glaubwürdigkeitsprobleme bleiben nicht aus, wenn man in Syrien für einen Systemwechsel, in Bahrain aber für die Stabilisierung des Status quo eintritt- notfalls auch militärischen Mitteln. Insgesamt dürfte der regionale Einfluss Saudi-Arabiens in den nächsten Jahren spürbar schrumpfen. Die innenpolitischen Herausforderungen, vor denen die Monarchie steht, werden größer; dazu gehört vor allem auch die komplizierte Gestaltung eines Generationenwechsels an der Spitze, der über die Frage der Nachfolge von König Abdallah hinausreicht, und die außenpolitische Energie und Handlungsfreiheit zunächst einschränken dürfte.
Der Einfluss, den Saudi-Arabien in der Region ausüben kann, steht immer auch in Relation zu dem anderer Staaten. Insbesondere das erfolgreiche Experiment eines von den Muslimbrüder geführten Ägypten wäre eine enorme Herausforderung für Riad- in der Region, aber auch in der eigenen Gesellschaft. Würde es doch zeigen, dass auch innerhalb eines islamischen Bezugssystems sehr viel mehr politischer Pluralismus und gesellschaftliche wie kulturelle Offenheit möglich sind als in Saudi-Arabien.
Ägypten in der Gewinner-, Iran in der Verliererrolle?
Ägypten, der mit Abstand bevölkerungsreichte arabische Staat und meist auch das Zentrum arabischer Politik, hat alle Chancen, auch wieder zum Vorreiter regionaler Politik zu werden und schon so eine Führungsrolle zu spielen. Voraussetzung dafür ist, dass die innenpolitische Polarisierung zwischen den Muslimbrüdern und ihren Gegnern überwunden wird. Nur wenn die ägyptische Regierung Entscheidungen treffen und durchsetzen, gleichzeitig aber auf einen gesellschaftlichen Grundkonsens bauen kann, wird Ägypten auch seinen regionalen und internationalen Partnern gegenüber voll handlungsfähig sein. Ägyptens schwierige Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds haben das deutlich gezeigt: Die ägyptische Regierung wollte das Richtige tun- ineffektiver und unsoziale Subventionen abbauen-, sah sich aber angesichts der politischen Polarisierung im Land dazu nicht in der Lage. Dabei ist zu erwarten, dass Ägypten versuchen wird, eine aktivere und selbstbewusstere regionale Rolle zu spielen und mehr Unabhängigkeit zu beweisen, als dies in der letzten Dekade der Herrschaft Husni Mubaraks der Fall war. Das gilt- ohne den Friedenvertrag in Frage zu stellen oder gar zu brechen – Israel gegenüber genauso wie im Verhältnis zu Saudi-Arabien oder Iran. Das gleiche gilt aber auch den Vereinigten Staaten oder Europa gegenüber, wo diese meinen, besser als Kairo zu wissen, wie regionale Konflikte zu bearbeiten sind. Beispiele für diese zum Teil auch demonstrative Unabhängigkeit von dem Partner USA, den auch eine von den Muslimbrüdern geführte Regierung weiter braucht, war der ägyptische Vorschlag, seine regionale Kontaktgruppe zu Syrien unter Einschluss nicht nur der Türkei und Saudi-Arabiens, sondern auch Irans zu bilden, das Washington wie auch Riad eher zu isolieren versuchen.
Iran gehört, trotz der in Teheran lautstark begrüßten Wahlsieg islamischer Parteien, letztlich nicht zu den Gewinnern des regionalen Umbruchs in der arabischen Welt. Vielmehr kämpft das Land darum, seinen eigenen regionalen Einfluss zu wahren, von Europäern und Amerikanern zwar nicht unbedingt als Partner, aber doch als unverzichtbare Regionalmacht anerkannt zu werden und als Regime zu überleben. Bei allen Schwierigkeiten, denen das iranische Regime sich gegenüber sieht, das nicht zuletzt aufgrund seiner Unterstützung von Baschar al-Assad in Syrien erheblich an „sanfter Macht“ in der arabischen Welt verloren hat, wäre es ein Fehler, Iran als Faktor der regionalen Dynamiken zu ignorieren. Zwar wirkt Teheran eher als Blockade- denn als Gestaltungsmacht. Das Land hat aber das Potential, enormen Einfluss auszuüben, wenn es selbst ein offeneres, weiniger restriktives politisches System entwickelt, dem es gelingt, die aktivsten und kreativsten Elemente der Gesellschaft, nicht zuletzt die eigene gut ausgebildete junge Generation zum Engagement im eigenen Land zu bewegen- und nicht in die Migration zu treiben.
Israel und Syrien-zweierlei Konfliktpotential
Es ist auffällig, dass Israel- jenseits des israelisch-palästinensischen Konflikts und der teils angedrohten, teils realen Eskalation in der Auseinandersetzung zwischen Israel und Iran- für die regionale Politik eine sehr viel geringere Rolle spielt als in vergangenen Jahren. Die arabische Staatengemeinschaft hat die Existenz Israels längst als Faktum akzeptiert; die arabische Öffentlichkeit bleibt dem jüdischen Staat gegenüber so kühl wie in der Vergangenheit, und eine Friedensregelung zwischen Israel und arabischen Staaten, die bislang noch keinen Frieden mit Israel geschlossen haben, wird aller Voraussicht nach so lange ausbleiben, bis eine haltbare Friedensregelung zwischen Israel und den Palästinensern in Kraft ist.
Die arabischen Revolten haben allerdings auch bewirkt, dass eine Externalisierung innerer Konflikte- auf die arabische Regime lange gesetzt haben- heute nicht mehr gelingt. So sehr die Menschen in Tunesien, Marokko, Ägypten oder Syrien sich weiterhin mit den Palästinensern solidarisieren, so wenig lassen sie sich darauf ein, ihre eigenen Forderungen nach Menschen würde, Gerechtigkeit, Freiheit und guter Regierung mit Blick auf den arabisch-nationalen oder islamischen Kampf um Palästina hintan zu stellen.
Regionale Politik und Machtkonkurrenzen wirken wiederrum, und das ist das zweite Phänomen, direkt auf die politischen Entwicklungen in einzelnen Staaten ein. Am deutlichsten wird dies im Falle Syriens. Der seit Mitte 2011 voll entbrannte Bürgerkrieg ist eben nicht mehr nur ein innerstaatlicher Machtkampf, sondern ist gleichzeitig zu einem Kampf um Syriens geworden, in dem vor allem die Türkei, Saudi-Arabien, Iran und Katar ihre geopolitischen Agenden verfolgen. Fast alle anderen Regionalstaaten sowie Russland, die USA und europäische Staaten versuchen ebenfalls, ihre jeweiligen regionalen Interessen in Syrien zu wahren oder zu befördern, sind aber nicht in gleicher Weise proaktive Spieler. Bei dieser regionalen Auseinandersetzung, die die lokalen Konfliktparteien sich bestenfalls zunutze machen, geht es sehr konkret um die Reichweite iranischen Einflusses in der Levante, darum, wer nach dem von allen regionalen Parteien erwarteten Fall Assads den größten externen Einfluss in Damaskus haben wird, und damit, angesichts der geostrategischen Bedeutung Syriens im Nahen Osten, um regionale Dominanz.
Dabei riskieren regionale Akteure auch, zum Teil sehr bewusst, eine Konfessionalisierung der Auseinandersetzungen in den einzelnen Staaten. Natürlich geht es weder in Syrien noch etwa in Bahrain eigentlich um einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten- oder Alawiten-, sondern um Rechte, politische und materielle Ressourcen und Macht. Die Konfessionalisierung poltischer und geopolitischer Konflikte hilft allerdings bei der Mobilisierung- und verschärft diese Konflikte entsprechend.
Das dominierende Gefühl: Unsicherheit und Ungewissheit
Es verwundert daher nicht, dass, drittens, regionale Politik im Nahen und Mittleren Osten seit Beginn der arabischen Revolten von einer anhaltenden Spannung geprägt ist, die nicht zuletzt von einem durchgehenden Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit genährt wird. Israel ist verunsichert über die Welle der regionalen Veränderung, die alte Verbündete weggespült und unbekannte, bekanntermaßen aber Israel nicht freundlichen gesinnte Akteure an die Macht gebracht hat. Iran sieht sehr wohl die konzertierten Bemühungen regionaler und internationaler Staaten, seinen Einfluss im Nahen Osten zu beschränken, und sieht auch das eigen Regime bedroht. In Teheran weiß man zudem, dass eine Konfessionalisierung der regionalen Politik Iran nur schaden kann, schließlich bilden die Schiiten zwar die überwiegende Mehrheit in Iran, aber nur eine Minderheit in der Gesamtregion. Saudi-Arabien und die anderen Monarchien auf der Halbinsel und Jordanien sind wiederum nicht nur mit Blick auf die eigene innere Lage verunsichert, sondern fragen sich auch, wie lange das geostrategische Interesse der Vereinigten Staaten an der Stabilität ihrer Regime anhält und amerikanische Schutzgarantien gelten. Hinzu kommt, dass das Misstrauen zwischen den politischen Führungsfiguren in der Region heute größer ist als zuvor. Die gegenseitige Kenntnis ist geringer; die neuen politischen Akteure sind weniger krisenerfahren als die langjährigen Herrscher des Nahen und Mittleren Ostens, die es in ihrer eigenen zynischen Eigenart verstanden hatten, ein prekäres Gleichgewicht zu bewahren und katastrophale Zusammenbrüche der regionalen Ordnung zu verhindern.
Wir vergessen gelegentlich, dass Kriege zwischen nah- und Mittelöstlichen Staaten seit dem Ende des irakisch-iranischen Krieges (1980 bis 1988)-und mit Ausnahme dieses Krieges- relativ kurz blieben. Bürgerkriege wie im Libanon, in Algerien, im Irak oder im Sudan dauerten zwar viele Jahre, wurden aber so „eingedämmt“, dass sie nicht auf die Nachbarländer überschwappten. So nahmen Syrien, Iran, Saudi-Arabien und andere Einfluss auf den Bürgerkrieg im Irak, der dort unter amerikanischer Besatzung tobte; Israel und Syrien bekämpften sich gern im Libanon und „bis zum letzten Libanesen“, vermieden aber direkte Auseinandersetzungen an der gemeinsamen Frontlinie. Diese im langjährigen Konflikten miteinander gewonnene Erfahrung fehlt heute; und vor allem fehlt es an funktionierenden regionalen Institutionen zur Krisenprävention und -bewältigung oder an bilateralen Instrumenten zur Vertrauensbildung und zur Vermeidung zumindest ungewollter Eskalationen – etwa zwischen den USA und Iran oder zwischen Iran und Israel. Insofern ist es besonders beunruhigend, wenn regional Akteure von der angeblichen Unvermeidlichkeit militärischer Auseinandersetzungen sprechen.
Arabische Jahreszeiten?
Am gefährlichsten bleiben hier kurzfristig der Konflikt über das iranische Atomprogramm, die Gefahr eines anhaltenden Bürgerkriegs in Syrien, der nach und nach auch regionale und internationale Mächte militärische involviert, und eine Explosion der Hoffnungslosigkeit in den palästinensischen Gebieten, wenn endgültig klar werden sollte, dass die Bemühungen um einen eigenen palästinensischen Staat neben Israel fruchtlos bleiben. Internationale Akteure, nicht zuletzt die Europäische Union und die USA, haben hier zweifellos eine Rolle, auch eine Verpflichtung und – zumindest was die EU angeht- ein starkes Eigeninteresse, zu einer friedlichen Bearbeitung der Konflikte beizutragen. Erfolgreich kann dies nur geschehen, wenn diese Akteure sich der Grenzen ihres Einflusses auf die regionalen Dynamiken bewusst sind.
Ist nun, wie so manch ausländischer Beobachter geschrieben hat, dem sogenannten Arabischen Frühling ein vorzeitiger Wintereinbruch gefolgt? Tatsächlich helfen die jahreszeitlichen Metaphern nicht (ich selbst habe mich stets bemüht, den Begriff des „Arabischen Frühlings“ nach Möglichkeit zu vermeiden). Sie sind zu kurzatmig, erzeugen die Erwartung, dass Entwicklungen innerhalb einer Saison zum Abschluss kommen und fördern damit gerade nicht, was angesichts komplexer gesellschaftlicher, politischer, kultureller und geopolitischer Transformationsprozesse notwendig wäre: strategische Geduld, gerade auch von Partnern in den betroffenen Staaten und Gesellschaften.
Die politischen Entwicklungen in der arabischen Welt und dem weiteren Nahen und Mittleren Osten sind durch viele transnationale Elemente geprägt. Das sollte uns aber nicht übersehen lassen, dass die ihrer historischen Erfahrung und ihrer Ressourcenausstattung nach doch sehr unterschiedlichen Länder den regionalen Veränderungssturm auch sehr unterschiedlich verarbeiten. Entwicklungen sind zudem nicht linear: Rückschläge und Umwege sind eher der Normalfall als die Ausnahme. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass eher der Normalfall als die Ausnahme. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Ägypten, Tunesien oder andere Länder in der arabischen Welt hiergegen eher immun wären als, beispielsweise, die Ukraine. Der Um- und Aufbruch der arabischen Welt ist aber insofern irreversibel, als ein Zurück zu den Verhältnissen des autoritären arabischen Sicherheitsstaats nicht mehr möglich scheint. Nichts drückt das besser aus als der Slogan „Das Volk will“, der uns nicht von ungefähr an das „Wir sind das Volk“ von 1989 erinnert und quer durch die Region deutlich gemacht hat, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht mehr als Untertanen behandeln lassen, sondern allen alten wie neuen politischen Autoritäten das Recht absprechen, den Staat als erweitertes Privateigentum zu betrachten. Die Menschen sind, in den Worten eines emiratischen Freundes, „größer geworden, die politischen Führer kleiner- und zwar in allen Staaten der Region“. Deshalb gleich weniger Konflikte- über die Verteilung von Chancen und Ressourcen, die Definition von Freiheit und guter Ordnung und die Gestaltung der regionalen Verhältnisse- zu erwarten, wäre allerdings ziemlich geschichtsvergessen.
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1 Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2013
2 Vgl. ausführlicher hierzu: Philippe Faruges, Demography, Migration and Revolt in the Southern Mediterranean, in: Cesare Merlini und Oliver Roy (Hg), Arab Society in Revolt, Washington D.C. 2012, S. 17-46.
3 Vgl. ausführlicher: Volker Perthes, Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, München 2011 sowie ders, Syrien: Das Scheitern einer Erbrepublik, in „Blätter“, 1/2012, S. 89-100.