Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft von Heinz Bude

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Die folgenden Betrachtungen über die Ausgeschlossenen in Deutschland sind als ein Stück öffentlicher Soziologie gedacht. Sie wenden sich nicht an ein Fachpublikum, sondern an Bürgerinnen und Bürger, denen die öffentlichen Angelegenheiten am Herzen liegen.

Es geht darum, aus persönlichen Problemen öffentliche Fragen zu machen. Die öffentliche Soziologie unterscheidet sich damit einerseits von einem bestimmten Genre sozialwissenschaftlich informierter Sachbücher, die sich auf den mitfühlenden Rapport persönlicher Problemlagen beschränken, weil ihnen der Begriff für die darin liegenden öffentlichen Fragen fehlt. Sie will sich andererseits aber auch nicht mit der prinzipiellen Erörterung öffentlicher Fragen über den Zustand unseres Zusammenlebens zufriedengeben, die keinen Sinn dafür haben, daß die Dinge, die alle angehen, immer einen Sitz im Leben haben. Die öffentliche Soziologie läßt die schlechte Alternative von Begriffsblindheit und Erfahrungsleere im Blick auf unsere Gesellschaft hinter sich. Sie nimmt das Einzelne auf, um das Allgemeine zu treffen.

Dabei hält die öffentliche Soziologie Distanz zu den sozialwissenschaftlichen Forschungen im Dienste eines politischen Auftrags. Es sind nämlich heute weniger die kommerziellen, sondern mehr die institutionellen Auftraggeber, die die Unvoreingenommenheit des soziologischen Blicks trüben. Die öffentliche Soziologie sucht nicht nach Vorschlägen, wie man es besser machen kann, sondern stellt nüchtern dar, was Sache ist. Sie will die Öffentlichkeit in erster Linie über die gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären, in denen wir leben, und nicht Rechtfertigungen für politische Akteure liefern, die sich in bester Absicht eine bestimmte Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben haben. Denn die Soziologie beweist ihre Stärke immer noch an der Unbekanntheit des sozialen Objekts. Sie erregt Aufmerksamkeit, wenn sie zeigen kann, daß die Dinge anders laufen, als man erwarten würde, und wie es geht, daß es so kommt, wie niemand es will. Nur dann begreift man wirklich, daß das Ganze auch anders sein kann.

Das gespaltene Ganze

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hat sich das Gesicht der Ungleichheit in unserer Gesellschaft gewandelt. Wenn von der Hauptschule als >>Restschule<<, von einer sich abkapselnden Unterschicht oder von einem abgehängten Prekariat die Rede ist, dann ist von der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Das hängt nicht allein damit zusammen, daß sich die Schere zwischen Armen und Reichen weiter öffnet. Es ist zwar ärgerlich, daß die Einkommen der großen Geldvermögensbesitzer verglichen mit denen der erwerbstätigen Messe in den letzten Jahren gewaltig gestiegen sind, das wäre aber hinnehmbar, wenn nicht gelichzeitig bestimmte Gruppen den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verlieren würden. Sie laufen mit, aber sie haben keine Adresse in der kollektiven Selbstauffassung unseres Gemeinwesens.

Diese Menschen trifft man in Gegenden, die gar nicht weit entfernt sind von den Zentren der Initiative, der Innovation und des Individualismus. Es reicht vom Wall in Hamburg, von der Königstraße in Stuttgart oder vom Hackeschen Markt in Berlin eine Fahrt von einer halben Stunde mit der U-Bahn, oder man nimmt nach 20 Uhr einen Bus vom schmucken Rathausplatz in ein bestimmtes Neubaugebiet des sozialen Wohnungsbaus am Rande Celles, Aachens oder Reutlingens: Jedes Mal gerät man in eine soziale Zone mit hoher Arbeitslosigkeit oder massiver Unterbeschäftigung, wo die Straßen dreckig, die Bushaltestellen demoliert, die Häuser mit Graffiti übersät und die Schulen marode sind. Hier treffen ökonomische Marginalisierung, ziviler Verfall und räumliche Abschottung zusammen. Die Menschen, die man in den Billigmärkten für Lebensmittel trifft, wirken abgekämpft vom täglichen Leben, ohne Kraft, sich umeinander zu kümmern oder aufeinander zu achten, und lassen gleichwohl keine Anzeichen von Beschwerdeführung oder Aufbegehren erkennen. Die Jugendlichen hängen herum und warten darauf, daß etwas passiert, die Männer mittleren Alters haben sich ins Innere der Häuserblocks zurückgezogen, und die Frauen mit den kleinen Kindern sehen mit Mitte zwanzig schon so aus, als hätten sie vom Leben nichts mehr zu erwarten.

Es herrscht eine Atmosphäre abgestumpfter Gleichförmigkeit. Hier leben Menschen, die sich daran gewöhnt haben, wenig zu besitzen, wenig zu tun und wenig zu erwarten. Sie kommen selten in andere Gegenden, lernen kaum andere als Ihresgleichen kennen und mißtrauen den Angeboten, die ihnen von Stadtteilinitiativen oder Beschäftigungsprojekten nahegelegt werden. Nur aus den Blicken der herausgeputzten männlichen Heranwachsenden mit den schneeweißen Kapuzensweaters, die zu allem fähig scheint.

Es kann einem aber auch passieren, daß man auf einem Fest zu einem runden Geburtstag nach vielen Jahren einen Bekannten von früher trifft, der zu viel redet, zu viel trinkt und viel schwitzt. Momentan liefen die Dinge nicht so gut, aber er habe schon wieder ein neues Projekt in Vorbereitung. Nein, mit der Frau, nach der man sich erkundigt, sei er schon lange nicht mehr zusammen, aber die Tochter aus dieser Beziehung habe gerade ihr Medizinstudium begonnen.

Nach und nach stellt sich heraus, daß der einst so siegesgewisse Verlagsleiter, den man wegen seines ungeheuren Erfolgs bei den Kommilitoninnen heimlich immer schon beneidet hatte, nach den Controlling des Verlags durch eine einschlägige Unternehmensberatung seinen Hut nehmen und sich als Mittvierziger fortan von einem freien Lektorenjob zum nächsten durchschlagen mußte. Man gewahrt plötzlich, wie jemand, mit dem man sich früher vergleichen konnte, den Bodenunter den Füßen verliert. Er wurde nicht freigesetzt, weil er keinen Erfolg hatte oder weil er sich nicht genug eingesetzt hätte, sondern weil die Unternehmensberatung dem neuen Mehrheitsaktionär des Verlages ein anderes Marktprofil empfahl, zu dem die Auffassungen und Fähigkeiten unseres Bekannten nicht mehr paßten.

Dem Verlust der Statusposition folgte die Trennung von seiner Frau, die hinter eine langjährige Affäre mit einer jüngeren Kollegin kam, dann brach die Finanzierung des gemeinsam gebauten, aber auf seinen Namen eingetragenen Eigenheims zusammen und seine unverhohlene Trinkfreude mußte er sich als Alkoholproblem vorhalten lassen. Das sarkastische Eingeständnis, von seinem zuständigen Fallmanager als unvermittelbar eingestuft worden zu sein, kann nicht über die panische Frage hinwegtäuschen, ob er noch zu dem sozialen Kreis der Eingeladenen gehört oder nicht schon längst abgeschrieben ist.
Eine dritte Art von Beobachtungen kann man beim Besuch eines Baumarkts machen. Verweilt man zu lange vor der Auslage der Mischbatterien, spricht einen unversehens ein Endfünfziger mit Sommerblouson und Turnschuhen an, Kein Verkäufer, sondern eine Kunde, genau wie man selbst, aber mit genauesten Kenntnissen der Vor- und Nachteile der einzelnen Angebote. Im Gespräch entpuppt er sich als kritischer Kunde ohne spezielle Kaufabsicht. Der Abteilungsleiter des Baumarkts bestätigt die Existenz dieser besonderen Klasse von Kunden, die sich stundenlang im Hause aufhalten, um das Warenangebot zu prüfen, Vergleiche vorzunehmen und Garantien zu erfragen. Wenn sie etwas kaufen, bringen sie es oft schon am nächsten Tag zurück und lassen sich den Kaufpreis erstatten. Es handelt sich, so der Abteilungsleiter, in der Regel um Männer, die sich im Vorruhestand oder aus sonstigen Gründen jenseits der Erwerbsphase befinden. Zu Hause fällt ihnen die Decke auf den Kopf oder sie gehen der Frau auf die Nerven, eine Parzelle in der Kleingartensiedlung oder ein Posten im Verein fehlt, und Schließlich kann man nicht den ganzen Tag fernsehen, weshalb der Gang in den Baumarkt ein Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gleichkommt. Der Baumarkt duldet diese Phantomkunden, weil sie besonders in den ruhigen Zeiten am späten Morgen und am frühen Nachmittag für eine gewisse Belebung des Hauses sorgen. Sie sind anwesend, weil sie aber weder Verkäufer noch Käufer sind, gehören sie, gemessen an der Funktionsbestimmung der ganzen Veranstaltung, nicht dazu.
Gemeinsam ist diesen verschiedenen Beobachtungen und Erfahrungen, daß sie vom sozialen Ausschluß handeln: die Ausgeschlossenen, die in den Bezirken der müden Gesellschaft exiliert sind, die Ausgeschlossenen, die von einem Knick in der Karriere aus der Bahn geworfen worden sind, und die Ausgeschlossenen, die in der Sphäre des Konsums auftauchen. Die Frage ist nicht, wer oben und wer unten, sondern wer drinnen und wer draußen ist. Diese Menschen leiden darunter, daß sie Mißachtung erfahren und daß sie vom Gefühl der Unabänderlichkeit und Aussichtslosigkeit gelähmt sind. Die Soziologie hat dafür einen neuen Begriff geprägt: Es geht nicht allein um soziale Ungleichheit, auch nicht nur um materielle Armut, sondern um soziale Exklusion. Der Bezugspunkt dieses Begriffs ist die Art und Weise der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, nicht der Grad der Benachteiligung nach Maßgabe allgemein geschätzter Güter wie Einkommen, Bildung und Prestige.

Jede Gesellschaft kennt soziale Ungleichheit. Die Skalen der Macht, des Privilegs und des Ansehens sind prinzipiell offen. Auch wenn eine Gesellschaft etwa nach sozialistischem Vorbild so eingerichtet ist, daß alle frei von Not sind, haben mache mehr zur Verfügung als andere, maßen sich bestimmte Leute Vorrechte vor allen anderen an, genießen einige wenige mehr. Ansehen als die Masse der vielen. Es gibt Grenzen ertragbarer Ungleichheit, die nur um den Preis latenter Rebellion oder lavierter Resignation überschritten werden dürfen: Nämlich dann, wenn Luxus, Macht und Wissen bei einigen wenigen konzentriert sind und sich alle anderen mit dem Standard, der Unkenntnis und der Schwäche zufrieden geben müssen. Ein Tropfen aus heiterem Himmel kann unter solchen Bedingungen das Faß zum Überlaufen bringen.

Auch ist Armut ein relativer Begriff. Wenn man, wie es in der Armuts- und Reichtumsberichterstattung üblich ist, arm diejenigen nennt, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung haben, wächst mit den Reichtum der Reichen automatisch die Armut der Armen. Auch hier sind natürlich Schwellenwerte der sozialen Schieflage spürbar, wenn sich der Eindruck einer unaufhaltsam voranschreitenden Polarisierung zwischen hohen und sichern und geringen und unsicheren Einkommen verfestigt. Dann nimmt die >>moralische Ökonomie<< einer auf den Leistungen aller aufbauenden Lebensform Schaden. Es breitet sich das Gefühl aus, daß sich einige wenige auf Kosten der vielen ein schönes Leben machen.

Soziale Exklusion dagegen ist weder auf gesellschaftliche Benachteiligung zu reduzieren nicht durch relative Armut zu erfassen. Sie betrifft vielmehr die Frage nach dem verweigerten oder zugestandenen Platz im Gesamtgefüge der Gesellschaft. Sie entscheidet darüber, ob Menschen das Gefühl haben, daß ihnen Chancen offenstehen und daß ihnen ihre Leistung eine hörbare Stimme verleiht, oder ob sie glauben müssen, nirgendwo hinzugehören, und daß ihnen ihre Anstrengung und Mühe niemand abnimmt. Für die Exkludierten gilt der meritokratische  Grundsatz >>Leistung gegen Teilhabe>> nicht mehr. Was sie können, braucht keiner, was sie denken, schätzt keiner, und was sie fühlen, kümmert keinen. Sie stellen daher eine Provokation für jede >>anständiger Gesellschaft<< dar. Denn sie führen der saturierten Mehrheit vor Augen, daß aufgrund bestimmter sozialer Mechanismen Menschen vor der Türe stehengelassen, aus ihren sozialen Kreisen aussortiert oder nach Ableistung ihres Beitrags zum Ganzen ihrem Schicksal überlassen werden.

In der Bundesrepublik haben wir solche Phänomene des sozialen Ausschlusses lange Zeit als Randgruppenproblematik behandelt. Beim Übergang von einer Mangel- zu einer Reichtumsgesellschaft kamen nicht alle sofort mit. Ränder der Unterentwicklung wie das bäuerlicher Niederbayern oder ein Zonenrandgebiet wie Nordhessen, Problemgruppen wie die Halbstarken wurden mit besonderen Maßnahmen in expandierenden Sozialhilfestaat bedacht. Sprichwörtlich war es zu Beginn der sechziger Jahre das katholische Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt vom Lande, dessen krasse Unterprivilegierung den massiven Ausbau des Bildungswesens begründete.

Die Metapher vom voranschreitenden Kern und von den machholenden Rändern drückte einen ungeheuren Modernitätsoptimismus aus, wonach sich alle noch desintegrierten, weil traditionsverhafteten, rebellionsbereiten oder einfach nur abseits gebliebenen Reste nach und nach in die große Mitte der Gesellschaft integrieren lassen würden. Die aufsteigende Soziologie diagnostizierte die Randgruppenproblematik, zu deren Lösung von ihr angeleitete Sozialarbeiter, Ärzte, Therapeuten und Lehrer Beitragen sollen.

Der von der Soziologie heute angebotene und in den meisten europäischen Ländern akzeptierte Exklusionsbegriff belegt das Ende dieser großen Erzählung einer schrittweisen Bewältigung der sozialen Frage durch eine erweiterte Integration der Gesellschaft. Die Umstellung von Kategorien des Mangels und des Privilegs auf eine es Ausschlusses und des Mangels hat mit einer Ernüchterung des Fortschrittsglaubens in unserer Gesellschaft zu tun. Die betrifft zuerst den Glauben an die Leistungen des Wohlfahrtsstaats. In allen Ländern des OECD-Raums, die man bei aller Unterschiedlichkeit in der Regulationsweise als wohlfahrtsstaatlich gedämpfte Kapitalismen bezeichnen kann, hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß es nicht allein die von der Allgemeinheit in Form staatlicher Transfereinkommen bereitgestellten Mittel sind, die über die Art und Weise gesellschaftlichen Teilhabe entscheiden. Im Gegenteil: Die Überzeugung, soziale Benachteiligungen auszugleichen, hat zur Züchtung einer Kultur der Abhängigkeit geführt, die die Leute zu Klienten einer Anstalt anstatt zu Herren über ihr eigenes Leben gemacht hat. Die Finanzierungsprobleme des Wohlfahrtsstaats haben nur seine inneren Pathologien aufgedeckt, wonach man Defizite unter Beweis stellen muß, um Anrechte sicherzustellen und Leistungen zu begründen. Das ursprüngliche Prinzip, Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren, hat sich in sein Gegenteil, nämlich in die Verfestigung von Wohlfahrtsabhängigkeit, verwandelt. Man soll sich nichts vormachen: Wer von der Wohlfahrt lebt, schrieb schon Tocqueville 1835, ist ohne Fürcht, aber auch ohne Hoffnung. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn wieder mehr Geld für Arbeitslose, Arbeitsunfähige und Arme zur Verfügung stehen würde.

Aber auch der Glaube ans Wirtschaftswachstum als Allheilmittel für die Ausgeschlossenen hat sich verloren. Selbst wenn wir in Deutschland wieder Wachstumsraten wie in der >>goldenen<< Nachkriegszeit von fünf und mehr Prozent erreichen würden, was nicht zu erwarten ist, würde die soziale Spaltung zwischen den Einbezogenen und den Entkoppelten nicht verschwinden. Im Gegenteil: Mit der Entfesselung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Produktivkräfte blieb immer ein Teil auf der Strecke, der aus Gründen mangelnder Kompetenz und unzureichender Motivation nicht mitkäme: Gerade ein rapider sozialer Wandel bringt eine Gruppe von Überflüssigen und Entbehrlichen hervor, die sich mehr oder minder zufällig am falschen Ort befinden, wo die alten Industrien niederbrechen, oder die immer noch einer vergangenen Zeit nachhängen, als man den Wert der Arbeit danach bemaß, wie dreckig die Hände waren. Die Wirkungen des Wirtschaftswachstums auf die Beschäftigungsentwicklung gestalten sich eben nicht linear, sondern sind durch eine bestimmte soziale Selektivität vermittelt, welche die einen gewinnen und andere verlieren läßt.

Schließlich kann einen auch der Glaube an die Integrationskraft einer differenzierten Gesellschaft nicht länger beruhigen. Die heilende Wirkung des Differenzierungsprinzips konnte man noch in Zeiten einer ironisch aufgefaßten Modernisierung darin sehen, daß es wenigsten aus dem Kommunikationszusammenhang der Gesellschaft keinen Ausschluß gibt. Wer bei der Arbeit das Nachsehen hat, mag im Konsum auf seine Kosten kommen; wem höhere Bildung fehlt, kann sich ans Unterschichtenfernsehen halten; und wer sich ausgeschlossen fühlt, kann immerhin noch die Aufmerksamkeit von Soziologen erwecken. Aus einer modernen Gesellschaft kann man schon deshalb nicht herausfallen, weil man, wie Paul Watzlawick lakonisch formuliert hat, nicht kommunizieren kann.

Freilich stammen gerade von der soziologischen Schule, die das Lob der alles und jedes einschließenden Kommunikation gesungen hat, die stärksten Zweifel an der Kraft der Integration Differenzierung. Das Switchen zwischen den verschiedenen Sphären und Bezügen funktioniert nämlich nur so lange, wie Zurücksetzungen in der einen durch Höherschätzung in einer anderen Sphäre ausgeglichen werden können. Hat jedoch der Ausschluß aus einem Folgen für den Einschluss in ein anderes Subsystem, dann mehren sich die Misserfolge und verstärkt sich die Abweichung: Keine zertifizierte Ausbildung, keine reguläre Beschäftigung, keine gesunde Ernährung, kein ausreichendes Einkommen, keine dauerhaften Intimbeziehungen, keine elterliche Verantwortung, kein Interesse an den politischen Angelegenheiten, kein Zugang zur Rechtsberatung, keine ausreichende Krankenversicherung- die Liste ließe sich verlängern und fügte sich, je nach Umständen, zu einer Geschichte sich aneinanderreihender Benachteiligungen bis hin zu einer Karriere des sozialen Ausschlusses. Dann bedeutet soziale Differenzierung nicht mehr die Rettung, sondern beschließt das Schicksal.

Wir reden hier nicht von den 4 oder 5 Prozent sozial Verachteten, die die Sozialstrukturanalyse auch in Zeiten von Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsboom registriert hat. Nicht von Clochards, die im Winter vom Kältetod bedroht sind, nicht von den Wohnungslosen, die dem Alkohol verfallen sind, nicht von den Verwirrten und Verrückten, die es in keiner Psychiatrie hält, auch nicht von den Heroin-, Crack- oder Vielfachabhängigen, die in ihrer Jungend ein eine entsprechende Szene geraten sind, von der sie nicht mehr losgekommen sind. Die Nachfahren der Stadt- und Landstreicher hat es immer gegeben und wird es immer geben, dazu kommen die >>Kinder von Bahnhof Zoo<<, die natürlich auch in Ingolstadt, Eutin und Hagen zu finden sind. Dem ist in offenen Gesellschaften und freien Ländern nur schwer beizukommen. Aber das ist ein anderes Kapital, das sich auch mit der globalen Drogenökonomie beschäftigen müsste. Wir reden hier nicht von einigen Zehntausend unglückseliger und verlorener Existenzen, die zweifellos ein erhebliches soziales Problem darstellen, sondern von Millionen von Ausgeschlossenen von

Ausgeschlossenen, die einen Keil durch unsere Gesellschaft treiben: Kinder, die in Verhältnissen aufwachsen, wo es für keinen Zoobesuch, keinen Musikunterricht und nicht für Fußballschuhe reicht, junge Leute ohne Hauptschulabschluß, die mit Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Frauen und Männer im mittleren Alter, die >>freigesetzt<< worden sind und keine Aussicht auf eine Wiederbeschäftigung haben, Scheinselbständige und Projektmitarbeiter ohne soziale Rechte und politische Stimme, Minijobber und Hartz –IV- Aufstocker, denen es kaum zum Leben reicht, Kunden der Bundesagentur für Arbeit, die in einer Maßnahmenkarriere verloren gegangen sind, und verschämte alte Leute, die sich in  ihre Zweizimmerwohnung zurückgezogen haben. Gemeinsam ist ihnen, daß sie für sich keine Perspektive mehr sehen, daß sie den Mut verloren haben und zu der Überzeugung gelangt sind, daß es auf sie nicht mehr ankommt.

Nach der für die Sozialberichterstattung der Europäischen Union gültigen Definition handelt es sich bei sozialer Exklusion um einen >> Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt oder durch ihre Armut bzw. wegen unzureichender Grundfertigkeiten oder fehlender Angebote für lebenslanges Lernen oder aber infolge von Diskriminierung an der vollwertigen Teilhabe gehindert werden>>. Diese schwerfällige Formulierung, die sich komplizierter politischer Kompromißbildung im >>Mehrebenensystem<< von Brüssel verdankt, tut noch so, als ob man durch eine Generalisierung der Zugänge und durch eine Differenzierung der Maßnahmen des Problem in den Griff bekommen könnte, doch die allgemeine Auffassung von den Widersprüchlichkeiten und Gegenläufigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung hat die Ausgeschlossenen längst zu einem integralen Teil unserer Gesellschaft werden lassen. Es ist nicht zu erkennen, wie sie aus der Welt zu schaffen wären, jede Inklusionsbemühung zeitigt über lang oder kurz bestimmte Exklusionseffekte, die jene wieder sichtbar machen, die man zum Verschwinden bringen wollte.   

Woher kommt das? Was ist mit unserer Gesellschaft passiert, daß sie den gesellschaftlichen Einschluss nur noch um den Preis des sozialen Ausschlusses bewältigt? Welche Entwicklung ist für diese Ernüchterung unseres Fortschrittsglaubens verantwortlich?

Von den Opfern der Deindustrialisierung war schon indirekt die Rede. Die Ausgeschlossenen sind, um den Titel des Klassikers von William Julius Wilson aufzunehmen, jene, die übrig bleiben, wenn die Arbeit verschwindet. Sofort kommen einem die vom industriellen Zeitalter zurückgelassenen Lachen von Detroit, Wales oder Kattowitz in den Sinn. Wer hier festsitzt, ist im ökonomischen Sinne überflüssig und von sozialer Unterstützung abhängig. Die Armut wächst, die Wohnquartiere verfallen, die Kriminalität steigt, Die entstehenden >>No-go-Areas<< werden von ihren Bewohnern genauso wie von den Außenstehen als städtische Höllen der Not, der Immobilität und der Gewalt erfahren, die nur noch von einer Gesellschaft der Ausgestoßenen ertragen werden können: In Deutschland wären Stadtteile Bremerhavens, das von den Werften, Duisburgs, das vom Stahl, und Bitterfelds, das von Chemie gelebt hat, Beispiele für solche Orte des industriellen Niedergangs und der sozialen Verbannung.

Doch das Bild täuscht. Nicht allein wegen der Erfolge des staatlich geförderten Strukturwandels, der Bremerhaven einen Containerhafen und ein Auswanderermuseum, Duisburg eine Universität und die Anbindung an die neue Dienstleistungskultur des zur europäischen Kulturregion avancierten Ruhrgebiets und Bitterfeld einen >>Leuchturm<< industrieller Konversion beschert hat. Die Ausschließung findet in Deutschland heute nicht von der Industrie, sondern durch die Industrie statt. Die Gruppe der Ausgeschlossenen wächst im Gefolge einer funktionalen Arbeitsteilung, die die wissenbasierte und dienstleistungsorientierte Facharbeit zum Normalmodell einer industriellen Hochproduktivitätsökonomie werden läßt. Die Medizintechnik, der Werkzeugmaschinenbau, aber auch die deutsche Autoindustrie haben so ihre Stellung in der internationalen Arbeitsteilung behauptet. Projektförmige Aufgabenbewältigung, flexible Spezialisierung und eigenverantwortliche Qualitätskontrolle lauten die Stichworte des neuen Arbeitsregimes. Selbst die Lagerarbeit ist keine einfache Tätigkeit mehr, die man im Pack-an und Hau-weg-Stil bewältigen könnte, sondern verlangt aufgrund der informationellen Darstellung der betrieblichen Abläufe gewisse systemanalytische Kompetenzen.

Was aber ist mit jenen, denen Gruppenarbeit genauso fremd ist wie die Bedienung eines Rechners, die Anforderungen als Bedrohungen erleben und die sich von dahergelaufenen Studierten im weißen Kragen schon gar nichts sagen lassen? Für diejenigen bleiben alle die Tätigkeiten, die im Prinzip fremd vergeben und ausgelagert werden können. Man Spricht in diesem Zusammenhang von >>Jedermannsarbeitsmärkten<<  der unqualifizierten, unsteten und ungesicherten Arbeitsverhältnisse. Für das repetitive Zusammensetzen kann man Stücklöhne unter Tarif vereinbaren, das Aufräumen und Saubermachen können Kolonnen mit >>flexiblen Arbeitszeiten<< übernehmen und die Sicherungsdienste sind mit Gelegenheitsjobs und Teilzeitstellen zu bewerkstelligen. Die entsprechenden Beschäftigungsverhältnisse sehen geringe Entlohnung, kurze Kündigungsfristen und wenige Rechte vor. So entsteht ein Proletariat neuen Typs, für das die Arbeit und der Erwerb nicht mehr eine Form von Reglementierung und Homogenisierung darstellt, sondern ganz im Gegenteil zu einer Quelle von Fragmentierung und Unsicherheit wird.

Wir haben es mit einem paradoxen Muster zu tun: Auf der einen Seite wächst die Nachfrage für motivierte, qualifizierte und inspirierte Arbeitskräfte und auf der anderen Seite verschärft sich die Bereitschaft zum Ausschluß einer unmotivierten, ungelernten und unwissenden Bevölkerung. Während die einen selbsbewußt die Bedingungen ihres Arbeitsvertrags aushandeln können, müssen sich die anderen auf Bedingungen einlassen, die ihre Verwundbarkeit entblößen und ihre Gefährdetheit  besiegeln. Das führt zu einer unterschiedlichen Betroffenheit von den konjunkturellen Zyklen: In Zeiten des Aufschwungs wirbt man in erster Linie um die Arbeitsnehmer in den Hochproduktivitätspositionen, und in Zeiten der Rezession versucht man zuallererst die Arbeitnehmerrinnen in den Prekaritätspositionen loszuwerden. Es ist also weniger die Deindustrialisierung als die Hyperindustrialisierung, die in Deutschland eine Population von Ausgeschlossenen hervorbringt.
Eine zweite Ursache für die Verstörung des modernen Fortschrittsglaubens hängt mit den noch unverstandenen Folgen der Migration in unserer Gesellschaft zusammen. Wir leben nicht mehr, wie Joseph Schumpeter seinen berühmten Aufsatz von 1927 über die Reproduktion der Kassenverhältnisse überschrieb, im >>ethnisch homogenen Milieu<<, und wir wissen im Grunde, daß sich daran nichts ändern wird. Binnen zweier Generationen haben sich Teile Deutschlands von einer Auswander- in eine Einwandergesellschaft verwandelt. In der Bundesrepublik lebten Ende 2003 rund 7,3 Millionen Ausländerinnen und Ausländer, was einem Teil von fast 9 Prozent an der Gesamtbevölkerung entspricht. Zwischen 1999 und 2003 blieb deren Zahl übrigens weitgehend stabil. Auch ist die Zahl der Asylbewerber weitere von rund 95 000 im Jahr 1999 auf etwa 36 000 im Jahr 2004 gesunken. Aber die Anzahl an sich ist nicht das Problem. Sind 10, 15, oder 20 Prozent Migranten eine Belastung? Belastet wird das Zusammenleben vielmehr dadurch, daß die Migration eine Spaltung in der Migrationsbevölkerung selbst mit sich bringt: Viele machen ihr Glück und finden ihren eigenen Platz in unserer Gesellschaft. Selbst bei lange verweigerter rechtlicher Integration, was die Staatsbürgerrolle betrifft, und der nach wie vor zurückhaltenden kulturellen Integration, was den offenen Umgang mit Differenzen in der Lebensart angeht, ist ihre soziale Integration in der Generationenfolge vorangeschritten. Der Bildungserfolg der Kinder liegt beträchtlich über dem ihrer Eltern, und die Erwerbsbeteiligung in der dritten Generation von beeindruckenden Statusverbesserungen gekennzeichnet. Es gibt in Deutschland einen italienischstämmigen, einen griechischstämmigen und erst recht einen türkischstämmigen Mittelstand. Wir haben in der Bundesrepublik einen Bundesverfassungsrichter, der italienischer Abstammung ist, und eine der Volksparteien Schmückt sich mit einem außerordentlich erfolgreichen türkischstämmigen Touristikunternehmer. Dem steht allerdings eine unklare Anzahl von Migranten gegenüber, die den Anschluss verliert, die sich isoliert und sich in ihrem Verlierertum zu radikalisieren scheint. Das sind die Migrationsverlierer, die sich in den Augen der zivilisierenden >> Mehrheitsklasse<< unserer Gesellschaft zu einer Gefahr für den sozialen Zusammenhalt insgesamt entwickeln.

Sie sammeln sich nach allgemeiner Vorstellung oft in heruntergekommenen Stadtquartieren. Dort sind die Schulen mit einem >>ndH<<, so die unter Lehrern und Erziehern gebräuchliche Formel für den Anteil von Kindern >>nicht-deutscher Herkunft<<, von 70 oder 80 Prozent, dort ist das Kleingewerbe von Handygeschäften, Frisörsalons und Glücksspielläden in >>ausländischer<< Hand, dort fallen im Straßenbild die von Kleinkindern umringten verschleierten Frauen auf. Die entsprechenden Daten liegen dank der PISA- Untersuchungen auf der Hand: So ist die Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund besonders hoch. 2003 haben noch 17 Prozent der deutschen die Hauptschule ohne Abschluss verlassen. Hier konzentriert sich ein Potential von Migrationsverlierern, in dem Benachteiligungen kumulieren, wodurch sich Zugänge verschließen, was wiederum Erwartungen enttäuscht und Gewaltbereitschaft fördert. So argumentieren, nicht unähnlich dem Alltagsverstand, auch sozialwissenschaftliche Theorien sozialer Deprivation, gruppenspezifischer Ausgrenzung und gesellschaftlicher Anomie.
Wie aber kommt die Spaltung der Migranten zustande und was denken, fühlen und wollen die Migrationsverlierer? Eine Wenig bedacht Ursache liegt in der Dynamik des Migrationszyklus. Offenbar ist es für die erste Generation leichter, Chancen zu ergreifen, einen Brückenkopf aufzubauen und Ruhe zu bewahren. Man lebt aus der positiven Bilanz der durch die Migration verbesserten Lebenslage. Die zumeist aus bäuerlichen Subsistenzwirtschaften stammenden >>Gastarbeiter<< der sechziger und siebziger Jahre erlebten eine Stellung als un- oder angelernte Arbeiter im produzierenden Gewerbe als sozialen Aufstieg. Schon in der zweiten Generation müssen Erwartungen der Positionsverbesserung in Ankunftsgesellschaft erfüllt werden, was ganz andere Enttäuschungen riskiert. Der Sohn soll als Facharbeiter unterkommen und die Tochter einen Mann bekommen, der sich einen Mittelklassewagen und eine Einbauküche leisten kann. Und in der dritten Generation werden die Erwartungen nicht mehr nur auf die eigene Herkunftslinie, sondern mehr noch auf die Lebenschancen von Gleichaltrigen überhaupt bezogen. Die Enkel denken nicht mehr daran, für andere Bezüge der Frustration geschaffen. Man ist jedenfalls nicht mehr bereit, wie einst die Großeltern die Ungleichheit der Lebenschancen duldend hinzunehmen. Was denen die selbstverständliche Voraussetzung des Vorankommens war, bedeutet für jene des Einverständnis mit den Zurückbleiben. Es ist das Empfinden von Ungerechtigkeit, das die Migrationsverlierer nach Halt in Vorstellungen suchen lässt, die eine höhere Kompensation für erlittene Frustration versprechen. Die Logik besteht darin, daß man sich anders macht, um gleich sein zu können,

       Daher haben wir besonders bei den Heranwachsenden mit Migrationshintergrund, die sich als die intern Ausgegrenzten empfinden, keine willige Adaption an unsere >>Leitkultur<< und keine freudige Partizipation an unserer Demokratie zu erwarten. Sie sehen sich in ihrem Erfolg wie in ihrem Scheitern als Adressaten einer Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft, der gegenüber sie sich zu beweisen haben. Dazu kommt die Konkurrenz zwischen den Migrantengruppen. Die Abkömmlinge der Bürgerkriegsflüchtlinge die Plätze teilen. Vor dem daraus sich entwickelnden Ethnorassismus unter den Migranten steht die deutsche Mehrheitsbevölkerung mit hilflosem Erstaunen oder abweisendm Unverständnis.

Es existiert noch eine dritte Ursache für sozialen Ausschluß: Das ist der Wohlfahrtsstaat neuen Typs, der gesellschaftlich brachliegende Arbeitskraft nicht mehr nur verwalten und stillstellen, sondern für >>dynamische Arbeitsmärkte<< befähigen und aktivieren will. Also keine Frühverrentungsprogramme mehr, sondern >>lebenslanges Lernen<< bei verlängerter Lebensarbeitszeit. >>Fordern und Fördern<< lautet die Parole. Danach bemisst sich, wer, auf welche Weise und in welchem Umfang vor den sozialen Absturz bewahrt wird. So wird vom Prinzip der erwartbaren Statussicherung auf das der totalen Mobilisierung umgestellt. Der >>aktivierende<<, >>ermutigende>> oder >>befähigende<<- oder wie die Attribute sonst noch heißen- Wohlfahrtsstaat soll die Leute nicht mehr vor der Anarchie der Märkte schützen, sondern sie zum Mitgehen verleiten und auf den Wechsel einstellen. Nicht Politik gegen, sondern für Märkte ist das leitende Prinzip, Dafür muß das muffig riechende Arbeitsamt zu einem farbig gestalteten >>Jobcenter>> aufgepeppt werden. An die Stelle von Versorgung im Anstaltsstaat tritt das >> Assessment<< nach den Prinzipien der >> Beschäftigungsfähigkeit<<.

Wie auch immer man die Transformation von einem Wohlfahrtsstaat, der die Passivität duldet und die Hilflosigkeit erlernt, zu einem, der die Eigenaktivität prämiert und die Selbstverantwortung einfordert, beurteilt, ein perverser Effekt ist nicht zu vermeiden: Das Programm der Aktivierung und  Mobilisierung erzeugt unweigerlich eine Restkategorie von Menschen, die sich trotz aller Angebote und Anreize nicht aktivieren und mobilisieren lassen. Das kann viele sehr unterschiedliche Gründe haben: Die Überqualifikation eines promovierten Mathematikers, dem nach Ablauf von 12 Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit von der Universität wegen einschlägiger Laufbahnregelungen eine Vertragsverlängerung verweigert werden muß, kann genauso dazu gehören wie die Geringqualifikation eines Mittvierzigers mit nicht nachweisbaren Schulabschlüssen, der 20 Jahre als mithelfender Familienangehöriger in dem jetzt geschlossenen Schnellrestaurant seines Onkels beschäftigt war. Der erste gilt wegen Kontaktscheue, der zweite wegen Distanzlosigkeit als schwer vermittelbar. Weiterqualifikation oder Umschulung werden als sinnlos erachtet. Das sind die Ausgeschlossenen des neuen Wohlfahrtsstaats. Ohne schlechtes Gewissen kann am Ende gesagt werden: Wir haben doch alles probiert, aber die können und wollen einfach nicht.

Diese Einsicht erschreckt um so mehr, als heute der soziale Klassencharakter von Lebensformen und Lebensentwürfen in Frage steht. Was als Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse verhandelt wird, konnte man so lange positiv sehen, wie der gesellschaftliche Fortschritt ein Mehr an Chancen bei einem Weniger von Risiken verhieß. Aber seitdem die Rechnung aufgemacht wird, daß neue Chancen mit anderen Risiken erkauft werden müssen, bereitet sich besonders bei denen, die etwas zu verlieren haben, Statuspanik aus. Hier zeigt sich ein vierter Wirkungszusammenhang des sozialen Ausschlusses, der sich aus dem Wandel der gesamten Verfassung unserer Gesellschaft ergibt. An der Passung von Individuum und Gesellschaft hat sich etwas geändert. Die Soziologie spricht von sozialer Plazierung und meint damit die Prozesse und Verläufe, die bestimmen, wie Personen auf Stellen kommen, wie sie in Positionen verbleiben und wie sie zu Statuswechseln gezwungen werden, Am Ende fällt der Apfel nicht weit vom Stamm, aber zwischendrin ist ziemlich uneindeutig und ungewiss, welche Wirkungen die Herkunft entfaltet, welche Entscheidungen die richtigen sind und welche Zufälle einen treffen.

Das gesamte soziale Gefüge ist unter den Druck der Verzeitlichung geraten. Niklas Luhmann hat dafür die schöne Formel von der Umstellung von Herkunft auf Karriere geliefert. Und dabei geht nicht alles in eine Richtung oder auf direktem Wege. Karriere ist ein schillernder Begriff: Es gibt Aufsteiger- und Absteigerkarrieren und >>Karrieren aus der Karriere heraus<<.
Es ist eben nicht mehr von Anfang an klar, wohin man auf den Gleis, auf das einen das Elternhaus setzt, gelangt. Man kann als Kind aus kleinen Verhältnissen auf unwahrscheinliche Weise vorankommen, man kann aber als Abkömmling eines Bildungsaufsteigers auch auf unerwartete Weise Schiffbruch erleiden. Insofern haben die Verfechter des homo oeconomicus schon Recht: Das Individuum ist nicht einfach Abbild der Gesellschaft, sonder immer auch Ausdruck seiner Strategien, Kalkulationen und Entscheidungen. Man muß zu dem werden, was man ist. Dabei hängt viel davon ab, worauf man setzt, was man versteht und wie man sich gibt.

Das beginnt schon in der Schule, wo Kompetenz als Zauberwort gilt. Nicht spezifische Aufgabenerfüllung wird erwartet, sondern die Darstellung von kreativem Umgang, eigener Initiative und generalisierter Erfassung. In der Abkehr von Frontalunterricht steckt die Aufforderung, nicht nur der Lehrerin oder dem Lehrer zu folgen, sondern sich selbst zu organisieren. Spielerisch lernen heißt, sich die Dinge selbst beizubringen. Dieses verborgene Curriculum regiert den gesamten Bildungsprozess, der darauf abgestellt ist, das Lernen des Lernens zu lernen. Wer nicht versteht, wie man das macht und vor allem wie man den Kompetenzerwerb unter Beweis stellt, hat mit einem Mal das Nachsehen. Und ob man das auf einer Waldorfschule besser lernt als auf einer konfessionellen Schule oder ob nicht doch eine normale öffentlicher Schule mit jahrgangsübergreifendem Unterricht und Montessoripädagogik die bessere Wahl darstellt, kann den besorgten Eltern auch kein pädagogisches Coaching mit Sicherheit sagen.

Daran schließen nahtlos die neueren Managementtheorien an, die die Projektförmigkeit der Arbeitsabläufe, die Generalisierung von Zuständigkeiten und die Flexibilität von Einsatzfähigkeiten gerade für die hochproduktiven Tätigkeiten herausstellen. Am Wochenende die dienstlichen E-Mails kontrollieren, zur Sicherheit auf dem Nachhauseweg das Handy abhören und sich nach Feierabend noch mal an den Rechner setzen, das alles ist längst nicht mehr nur für Führungskräfte selbstverständlich. Wer vorankommen will, muß, gleichviel auf welcher Ebene des Betriebs, zeigen, daß sie oder er nicht nur auf Anweisungen zu warten pflegt und sich nicht allein in hergebrachten Bahnen bewegen kann. Das  Regime des rationierten Statuserwerbs wird durch jenes des Versetzungsaufstiegs, der Prämienzahlungen und der Extravergütung ersetzt. Gefördert werden die Kompetenten, Mobilen und Flexiblen, auf der Stecke bleiben die Unbeweglichen, Flexiblen, auf der Strecke bleiben die Unbeweglichen, Ängstlichen und Engstirnigen, Das bringt ein Stresspotential eigener Art mit sich.

Aber wie lange läßt sich die Überzeugung von der eigenen Wendigkeit, Schnelligkeit und Geschmeidigkeit aufrechterhalten? Wer sich durch Körpershaping, Antiaging und Alltagsdoping fit und flexibel hält, fühlt sich in Augenblicken der Ermüdung und Ermattung schnell vom Gespenst der Überflüssigkeit bedroht. Was zählt man noch, wenn man nicht mehr mithalten kann? Es scheint sich gerade bei den Avantgardisten der >>time-space-compression<<, die sich im ICE zwischen den verschiedenen Arbeitsorten und der Heimatadresse bewegen, die vor der Minibar im Hotelzimmer in plötzliche Depression geraten und die kein aufgebackenes Croissant zum Busineßfrühstück mehr sehen können, ein Gefühl des Driftens auszubreiten. Wer im Dienste seiner allseitigen Anschlussfähigkeit alle Kleider des Kollektiven abgestreift hat, sieht sich in Momenten der Unterbrechung und des Übergangs auf die >>transzendentale Obdachlosigkeit<< der eigenen Biographie zurückgeworfen. Sie sollen das Leitbild für die totale Mobilisierung des Arbeitsvermögens darstellen, und fühlen sich selbst in ihrer Haut nicht wohl und in ihrer sozialen Position alles andere als gesichert.

Der Boden der Gesellschaft schwankt. Robert Castel hat in Absetzung von den in der Soziologie gebräuchlichen Schicht- und Klassenbegriffen den Begriff der Zone eingeführt, um die labilen Verhältnisse zwischen den Integrierten, den Anfälligen und den Entkoppelten zu erfassen. In einer verallgemeinerten >>Kultur des Zufalls<<, in der sich hinter jeder Wahl die bange Frage verbirgt, ob man sich auch richtig für das eine und gegen das andere entschieden hat, kann man unversehens aus der Zone des stabilen Einbezogenseins in die prekäre Unentschiedenheit geraten. Die Fragen, ob man die richtig Ausbildung, den passenden Partner, die aussichtsreiche Beschäftigung und die beste Schule für die Kinder gewählt hat, lassen einen nicht in Ruhe. Wenn dann der Wohlstand prekär, die Locher des sozialen Netzes durch Trennung und Entfernung größer, das Vertrauen in die Institutionen des sozialen Schutzes schwächer und die Abhängigkeiten von den körperlichen Süchten tiefer geworden sind, findet man sich unversehens in die Zone der Entkoppelung geworfen. Die Welt der Chancen scheint mit einem Mal die der anderen zu sein- und für einen selbst besteht die Wirklichkeit des Lebens mehr in einem Erleiden der äußeren Ereignisse und Entwicklungen als im Handeln in einer Welt selbstbewirkter Wirkungen.

Es ist also nicht nur so, daß jedes soziale Feld, wie Pierre Bourdieu einmal formuliert hat, sein >>kleines Elend<< kennt, man denke an den ewigen Oberarzt, an die verbitterte Sachbearbeiterin, an den auf der Vorortstrecke hängengebliebenen Zugeschaffner, an die vom >>Weiblichkeitswahn<< zermürbte Hausfrau und Mutter mit Universitätsabschluss. Nein, dieses mehr oder minder normale Unglück isst es nicht allein: die soziale Stufenleiter ist überhaupt glitschiger geworden. Der Absturz scheint von überall möglich.
Natürlich gibt es nach wie vor schützende Ressourcenausstattungen in Form von Vermögensrücklagen, Bildungstiteln und nützlichen Freunden, aber das Vertrauen, der Lebensverlauf halte sich im Positiven wie im Negativen im Rahmen erwartbarer Wahrscheinlichkeiten, ist offenbar abhanden gekommen. Karriere ist nicht nur ein Versprechen, sondern zugleich eine Bedrohung.
So ziehen sich die unregelmäßigen, aber unmissverständlichen Linien der sozialen Spaltung durch unsere Gesellschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die den sozialen Wandel verkörpern und den Takt vorgeben, und auf der anderen diejenigen, die zurückbleiben und aus dem Rhythmus kommen. Das Passiert auf allen Ebenen und in den verschiedenen Milieus unserer Sozialwelt: In den Milieus der Unterprivilegierten genauso wie in den Arbeitnehmermilieus der Mitte, im psychosozialen Mittelstand der Ärzte, Therapeuten und Lehrer genauso wie im Bildungsbürgertum der Professoren, Pfarrer und Rechtsanwälte, in der Manager- und Bankerklasse genauso wie in den Reihen des Besitzbürgertums, Die Milieus teilen sich in relativer Gewinner und relative Verlierer. Es ist im Zweifelsfall eine Frage der Energie, des Geschicks und der Berechnung, aber auch eine der Gelegenheiten und des Glücks, ob die Leute in ihrem jeweiligen Viertel auf der sonnigen oder auf der schattigen Seite der Straße landen.

Den der soziale Raum ordnet sich entlang von zwei Dimensionen: entlang der vertikalen Dimension der sozialen Stufenleiter und entlang der horizontalen der Fühlung mit den sozialen Wandel. Weil von Wechsel der Funktionalen Arbeitsteilung, von der veränderten Zusammensetzung der Bevölkerung durch Einwanderung, vom Umbau des Wohlfahrtsstaats und von der Entstandardisierung der  Lebenslaufregimes keine Lebenswelt und kein Sozialsystem unberührt bleibet, lässt sich die Dynamik des sozialen Ausschlusses nicht auf einen bloßen Algorithmus der Armut reduzieren. Das Ausmaß der Spaltung zwischen denen, die sich sicher sein können, daß ihre Stimme zählt, und jenen, die von dem Gefühl beherrscht sind, daß es auf sie nicht mehr ankommt, befindet über das >> gute Leben<<, das eine Gesellschaft ihren Mitgliedern ermöglicht. Wenn die vermittelnde Kommunikation zwischen denen, die drinnen sind, und denen, die draußen bleiben, abbricht, zerreißt die soziale Spaltung das soziale Band des Zusammenlebens.
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Dieser Beitrag ist das erste Kapitel aus dem Buch des Autors Heinz Bude „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“,  erschienen im Carl Hanser Verlag, München 2008.

Heinz Bude (* 1954 in Wuppertal) ist ein deutscher Soziologe und Hochschullehrer. Er hatte Lehrstühle an der Freien Universität Berlin und an der Viadrina in Frankfurt/Oder inne und war 1996 Visiting Scholar am Center for European Studies der Cornell University. Seit 2000 lehrt er als Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel.
Seine Arbeitsschwerpunkte sind Generations-, Exklusions- und Unternehmerforschung. Bude ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in deren Vorstand er 2004 gewählt wurde.


Quellen

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  • Martin Kronauer, Exklusion: Die Gefährdung des Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York 2002
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  • Heinz Bude und Andreas Willisch, Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“, Frankfurt am Main 2008
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  • Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982
  • Michael Vester und andere, Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt am Main 2003.
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