Rede des Preisträgers

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Prof. Mohammed Arkouns Rede Anlässlich des Erhalts des IBN RUSHD Preises für Freies Denken 2003

Berlin 6.12.2003

Goethe Institut Berlin

Meine Damen und Herren,

Liebe Kollegen, liebe Freunde,

Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, um zu beschreiben, was in mir an dem heutigen Tag vorgeht. Zunächst möchte ich mich bedanken und meinen Kollegen und Freunden gratulieren, dass sie die Initiative ergriffen haben und diese Organisation nach einem Denker genannt haben, auf den die ganze Welt stolz ist. Sie haben erkannt, dass es bei der arabischen Gesellschaft und bei allen Völkern, die dem islamischen Denken angehören, einen großen Bedarf an Freiheit und Demokratie gibt. Das islamische Denken ist von der arabischen Sprache untrennbar. Die islamische Welt ist heute fast überall auf der Erde präsent.

Ich möchte mich auch bei meinem Freund Stefan Wild bedanken, er hat mich ganz richtig und genau beschrieben, ich spüre das von ganzem Herzen und ganzer Seele. Er war der erste, der als Wissenschaftler andere auf mein Buch aufmerksam gemacht hat, das 1984 unter dem Titel Naqd al-aql al-islami-„Kritik am islamischen Denken“ erschienen ist.

Ich sage das, um den Akademiker-Kollegen im Westen gerecht zu werden – ich nenne sie ganz bewusst nicht Orientalisten, denn die Begriffe Orientalisten und Orientalistik sind aus einer Diskussion heraus entstanden, aus Unkenntnis, was diese Personen, die man lieber „Wissenschaftler des Westens“ hätte nennen sollen, geleistet haben. Seit dem 19. Jahrhundert beschäftigen sich diese Wissenschaftler intensiv mit der arabisch-islamischen Kultur und wenden Methoden, wissenschaftliche Ansätze und Theorien an, die in Europa – in keiner anderen Kultur sonst –   entwickelt worden sind : Damit meine ich die Zeit der Moderne.

Die Moderne ist ein geistiges, wissenschaftliches, kulturelles, politisches und juristisches Phänomen. Sie erschien auf diesem Teil der Erde, das wir Europa nennen, sie ist in keinem anderen Gebiet erschienen. Ich sage das als Historiker. Der Historiker ist derjenige, der uns zeigt, an was wir uns halten müssen auf dem Weg der geistigen Entwicklung. Den Historiker interessiert nicht nur seine eigene Sprache, seine Kultur, seine Heimat und seine Religion – diese Dinge sind für ihn natürlich von großer Bedeutung, da er durch sie reift, sie sind seine ersten Wissensquellen. Anders als der Geschichtserzähler, der nur Geschehnisse der Vergangenheit niederschreibt, sieht der wissenschaftlich denkende Historiker den tieferen Sinn der Geschichte.

Es gibt viele Standpunkte in der historischen Entwicklung der Geschichtsschreibung. Es gibt sie als umfassende Wissenschaft oder als eine Wissenschaft, die sich auf die Berichterstattung einzelner Ereignisse konzentriert, so wie es in vielen früheren Kulturen in der Vergangenheit üblich war.

Ich beginne also damit, zu sagen, dass der Westen die Gelegenheit hatte, sich grundlegend zu entwickeln und alle geistige Strömungen, die es im Mittelmeer-Raum gegeben hat, zu übernehmen.

Und es waren die Religionen, die den Geist der Menschheit in diesem historisch-geographischen Raum geprägt haben. Ich bestehe auf diesen Begriff, „historisch-geographischer Raum“, und würde es begrüßen, wenn wir diesen Terminus auch in den Schul-Geschichtsbüchern benutzen würden für das Lehren der Geschichte des Geistes, der Politik und Kultur, die eine große Rolle gespielt und uns in den jetzigen Zustand gebracht haben.

Dieses Lehren nenne ich „angewandte Islamwissenschaft“. Damit ist gemeint, dass das islamische Denken nicht allein als einzig wahrer Glauben für die Menschheit dargestellt wird, wie es die Vertreter der islamistischen Strömungen betreiben. Ich sage absichtlich islamistische und nicht islamische – der Begriff ist ein soziologischer Begriff und kein polemischer Begriff. Sobald ich vor einem islamischen Publikum „islamistisch“ sage, ist es zornig und behauptet, ich würde es anfeinden. Ich spreche als Sozialwissenschaftler, der beobachtet, was in der Gesellschaft vorhanden ist, was für Strömungen in Erscheinung treten und bisher nicht da gewesen sind. Die Geistesströmungen, die wir heute in den arabisch-islamischen Ländern vorfinden, hat es so früher in keinem arabischen Land gegeben. Vor den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts war noch die Rede von der sozialistischen arabischen Revolution. Damals sprach man nicht vom Islam, um  diese Denkströmung zu unterstützen. Dieses erfolgte später.

Ich komme damit zurück auf Ibn Rushd. Ich bin froh, dass Sie diesen Namen gewählt haben. Er steht für eine Geistesgeschichte im Mittelmeer-Raum – sei es die arabisch-islamische oder latein-christlich-europäische –, die sich beschreiben lässt als sich ergänzende, ständig im Dialog befindende, gegenseitig beeinflussende Denkströmungen. Durch sein Werk lässt sich auch die anthropologische und geistesgeschichtliche Grenze erklären, die sich zwischen den Religionen, Geistesströmungen und Kulturen im Mittelmeer-Raum und jenseits des Hindus in Fernost auftut. Dort finden Sie eine völlig andere Denkweise, eine andere Perspektive der Wahrheit, die einem hilft, den Weg des Lebens zu erleuchten. Diese Betrachtungsweise, die die Menschen jenseits des Indus haben, ist auch Teil der Geistesgeschichte im Mittelmeerraum.

Wie Sie vielleicht wissen, lebte der Moslem Ibn Rushd (Averroes in Europa genannt) in Andalusien. Einer seiner Zeitgenossen war der Jude Maimonides, er starb 1204, Ibn Rushd starb 1198, sie waren also Zeitgenossen. Kurz darauf sollte ein weiterer Denker kommen, der aus dem lateinischen Europa stammte, der Christ Thomas von Aquin, er starb 1274. Diese drei Männer lebten also in derselben Epoche und haben sich gegenseitig befruchtet. Maimonides verfasste seine Bücher in arabischer Sprache, er war wie gesagt Jude, aber sein Denken bewegte sich in einem über Jahrhunderte entstandenen Rahmen zweier Wissenschaftsfelder, das der Philosophie und das der scholastischen islamischen Theologie.

Heute machen wir einen Unterschied zwischen Philosophie und Theologie. Wir unterrichten diese beiden Wissenschaften an zwei verschiedenen Fakultäten. Hier in Deutschland erkennt der Staat das Lehren von Theologie an den öffentlichen Universitäten an, Frankreich dagegen lehnt es ab, dass Theologie an den öffentlichen Universitäten gelehrt wird. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt, auf den ich hinweisen möchte, für die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes.

Die Werke der drei Denker – Ibn Rushd, Maimonides, Thomas von Aquin – entstanden im Rahmen des Mittelalters, wie die Historiker die Zeit heute nennen. Es ist eine der Entwicklungsstufen im Mittelmeer-Raum. Diese Entwicklungsstufe hat in folgenden Jahrhunderten nur noch historischen Wert, auf die man nicht als Quelle des Wissens und der Erkenntnis, z.B. zum kennen lernen der Religion, nutzen kann, nachdem in Europa der Modernismus in Erscheinung getreten ist, wie ich vorhin angedeutet habe. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir sind stolz auf Ibn Rushd als Pionier. Denn er leistete einem anderen Muslim, der auch einflussreiche und wichtige Werke verfasst hat, Widerstand. Und das ist al-Ghazali.

Ich will mich hier darauf beschränken, Sie an die Bedeutung  des Dialogs zwischen den beiden Philosophen zu erinnern, der in arabischer Sprache im Mittelalter geführt wurde. Al-Ghazali veröffentlichte einst ein Buch mit dem Titel: Faisal al-tafriqa baina l-islam wa-z-zandaqa-„Das Kriterium zur Unterscheidung zwischen dem Islam und der Häresie”.

Wir bewegen uns heute, was den Islam und die Häresie anbetrifft, immer noch im Rahmen dieser philosophischen Kategorien, die al-Ghazali in seinem Buch festgelegt hat. In jenem Buch sah al-Ghazali sich als Denker in der Lage, zu sagen: Dieser Mensch ist ein wirklicher Muslim, dessen Islam wir anerkennen, und jener ist kein Muslim, da er sich vom wahren Glauben entfernt habe. Dies ist Theologie und eine spezifische Form der Anwendung  theologischer Theorien.

Achtzig Jahre später kam die Antwort Ibn Rushds und seine Reaktion auf al-Ghazali. Ibn Rushd veröffentlichte sein berühmtes Buch: Fasl al-maqal fi-ma baina l-hikmati wa-sh- shari’ati min al-ittisal-„Harmonie der Religion und der Philosophie“. Dieser Titel offenbart eine andere Vorgehensweise. Er vermittelt dem Leser, dass der Autor beide Seiten, die der Philosophie und die der Theologie, kritisch und genau betrachtet. Ibn Rushd nähert sich dem Problem kontemplativ fragend, er gibt keine endgültigen Urteile, indem er etwa sagen würde: Das ist richtig und danach haben wir uns zu richten, und das ist falsch … Nein, die philosophische Betrachtung urteilt nicht nach einer solchen Art von Unterscheidungskriterium.

Ibn Rushds Denkhaltung dürfte uns eine Lehre sein, wir haben sie für das heutige Denken, welches sich islamisch nennt, sehr nötig. Ich bestehe auf diesen Begriff, islamisch, nicht, weil ich sagen will, dass ich  den Islam kenne, sondern nur, um die Anschauung zu beschreiben, die wir im arabischsprachigen Raum erleben, wie diese Sprache heute gesprochen wird. Ich sage heute, weil die arabische Sprache sich von ihrem kritisch-philosophischen Wörterbuch verabschiedet hat. Sie ist vielmehr eine Sprache geworden, die vom Diskurs der Ideologie und ideologischen Position beherrscht wird.

Sie sehen, wie wir aus dieser philosophischen Anschauung lernen können, die diesen Dialog zwischen al-Ghazali und Ibn Rushd kennzeichnet. Wir können dieses philosophische Experiment auf das heutige ideologisch arabisch-islamische Denken, unter dem wir leiden, übertragen.

Eine kritische Betrachtungsweise basiert auf eine philologisch geprägte historische Wissenschaft, jene Philologie, die wir von deutschen Denkern und Wissenschaftlern gelernt haben. Wir hörten von dieser philologischen Methode zum ersten Mal seit Beginn der  Epoche, die von uns als Aufklärung bezeichnet wird. Taha Hussein hat  Philologie an der Sorbonne studiert und ihre Theorie in der Studie al-Shi’r al-gahili-„Vorislamische Dichtung“ angewandt. Wir haben ja dann gesehen, was mit diesem Buch geschah, es wurde verboten, da die al Azhar-Gelehrten bis dahin noch nie etwas von dieser Methode gehört hatten.

Die Philologie begann in der Moderne, im Mittelalter kannte man sie in der Geschichtsphilosophie und  der Geschichtsschreibung nicht. Natürlich stellt der eine oder andere die Frage, ob das von ihm untersuchte Dokument historisch echt oder gefälscht sei. Die Historiker kennen das Problem. Die Philologie ist eng mit der Betrachtungseise der Historiker verbunden, die das geistige Denken historisch dokumentieren, und zwar ausserhalb der Schranke des Dogmas, die in theologischen Wissenschaften die  Grenzen ihrer Freiheit legt.

Die Theologie hat sich heute gewandelt und bedient sich der historischen Methode. Aber nicht alle heutige Theologen in Deutschland stützen sich auf die Philologie, vor allem dann nicht, wenn es sich um sogenannte heilige religiöse Schriften handelt, die nur von den „Reinen“ berührt werden dürfen.

Dennoch möchte ich auf einen sehr wichtigen Punkt aufmerksam machen: Ich hoffe, dass diese Institution, „IBN RUSHD für Freies Denken“, sich nicht bei denjenigen einreiht, die der Meinung sind, dass es genügt, nur zu den alten Denkern zurückzukehren, um die islamische Philosophie wiederzubeleben, wie wir es aus diesen Büchern und von ihren Autoren übernommen haben.

Nein, denn es gibt das Phänomen der Moderne, mit dem wir uns befassen müssen. Wir müssen sie zu unserem philosophischen Rahmen machen, es genügt nicht, die Moderne zu übernehmen, ohne das arabische kulturelle Erbe historisch und kritisch zu betrachten. Ich kann mich damit nicht begnügen, die Erkenntnismethode von Ibn Rushd zu übernehmen, wie er sie in seinem Buch „Harmonie der Religion und der Philosophie“ niedergelegt hat, um die gegenwärtigen Fragen des islamischen Rechts und den von ihm damals behandelten Zusammenhang zwischen Philosophie und Theologie zu untersuchen. Diese Überlegung führt uns zur Kritik des gegenwärtigen islamischen Denkens und dies verbindet mich mit dem Experiment von Ibn Rushd.

Ich möchte hier erwähnen, dass Ibn Rushd nicht der einzige Denker ist, den ich hervorheben möchte und dessen Ideen ich reflektiere. Es gibt andere Denker, die ich schätze, und ich habe mich mit ihnen vertraut gemacht, als ich meine Dissertation verfasst habe, die Sie auf Arabisch lesen können:  „Die humanistische Anschauung in der arabischen Philosophie im vierten Jahrhundert des islamischen Kalenders“. Zu diesen arabischen Denkern, die ich liebe und heute wiederbeleben möchte, damit sie uns in die Moderne begleiten können, gehört der von mir hochgeschätzte Abu Hayyan at-Tawhidi, weil er ein revolutionärer Denker gewesen war, der eine geduldige geistige Revolution geführt hat, die nicht das Geringste mit Gewalt oder mit einem  unfruchtbaren Diskurs zu tun hat. Die Bücher Abu Hayyans sind ein hervorragendes Zeugnis dafür, dass das arabische Denken einst begonnen hatte, einen Raum für das allgemein menschliche Denken zu eröffnen, also für das, was wir al-ansana,  also Humanismus nennen.

Sehen Sie, liebe Freunde, ich sah mich gezwungen, einen neuen arabischen Begriff einzuführen, um eine in der arabischen Sprache vorhandene Richtung zu übersetzen; dies, obwohl unsere Sprache längst den Begriff  Adab als synonym für Humanismus hatte. Eigentlich hätte ich einfach von der Adab-Anschauung im arabischen Denken im 4. Jahrhundert der Higra sprechen können, aber wenn ich diesen Begriff benutzt hätte, dann hätten die Leser mich missverstanden und geglaubt, ich würde von den geisteswissenschaftlichen Fächern einer  Universität  reden, was natürlich in keiner Weise von mir gemeint gewesen wäre, denn heutzutage  bedeutet der Begriff Adab eben  nur noch Literatur  und nicht Humanismus.

Also, es gab einst einen lebendigen Begriff für dieses Phänomen „Humanismus“ in der arabischen Sprache. Aber er ist nun erloschen; er ist nicht mehr dafür geeignet, das heutige Denken mit einem grundlegenden Aspekt zu bereichern, der in der Sprache des 4. Jahrhunderts des islamischen Kalenders üblich war. Jene Denkweise und die ganze Philosophie sind nach dem Tod von Ibn Rushd  untergegangen. Dies ist auch ein historisches Phänomen, das von den Historikern bis jetzt nicht beachtet wurde. Es gibt zwar mehrere Studien darüber, die aber nicht gründlich genug sind. Seit dem Mittelalter und bis zur Gegenwart leiden wir an diesen Bedingungen, die das gegenwärtige Denken und das Leben der arabischen Gesellschaften prägen.

Dieses Beispiel mit dem Begriff Adab-Humanismus, für das wir einen neuen Begriff einführen müssen, den Begriff al-ansana – von insan, das Wort bedeutet Mensch auf Arabisch –  ist neu für den arabischen Leser, der sich fragen könnte: Warum spricht der Autor nicht einfach vom humanistischen Denken? Ferner denkt er: „Dieser Professor Arkoun drückt alles so kompliziert aus. Wir können ihn nicht verstehen, und deshalb lesen wir auch seine Bücher nicht.“ Ein Kritiker sagte: „Es ist ein Meer von Begriffen“… Ja, ein Meer von Begriffen, wir brauchen dieses Meer von Begriffen.

Die größte Katastrophe besteht allerdings darin, dass das gegenwärtige arabische Denken sich seit den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts weder mit der klassisch-arabischen Philosophie vom 7. bis 13. Jahrhundert noch mit der des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn des 2. Weltkrieges beschäftigt hat. Es handelt sich um die  von den Wissenschaftlern als liberal bezeichnete arabischen Phase, die wir Renaissance nennen. Schauen Sie sich den Unterschied an zwischen den Anschauungen von Muhammad Abduh – seiner Offenheit und seinem  pragmatischen Denken, sogar, was die Interpretation der Scharia anbetrifft – und die Positionen jener, die wir Islamisten nennen,… vor denen sich Millionen von Muslimen  andachtvoll knien. Aus dem liberalen Denken wurde ein  vulgäres Denken,  ich nenne es auch islamistisch.

Nun kommen wir in die Soziologie hinein, die uns neue Horizonte für die philosophische Kritik öffnet. Wie Sie wissen, habe ich ein Buch geschrieben, das mehrere Titel trägt, die ich nur in der arabischen Sprache so gewählt habe und nicht auf Französisch. Jeder dieser Titel weist auf ein weites Feld in der Forschung und der Philosophie hin. Ich meine den Titel übersetzt: „Fundamentalistisches Denken und die Unmöglichkeit der Fundamentalisierung.“ Es ist ein sehr provokativer Titel. Viele Araber, die man als Intellektuelle bezeichnen kann, wissen nicht, was ich mit „Unmöglichkeit einer Fundamentalisierung“ meine. Ich meine es nicht aus der Sicht des islamischen Denkens, das auf dem Fundament beruht, das islamische Recht aus dem Koran und Hadith zu entnehmen. Das Streben nach dem asl ist die Suche nach dem Ursprung, also nach dem Fundament, auf dem die islamischen Rechtsurteile basieren. Das bedeutet, dass die fundamentalistische Haltung im arabisch-islamischen Denken verankert ist.

Im Mittelalter glaubten muslimische Denker, dass es einfach sein könne, sich mit der Suche nach dem Fundament zu beschäftigen, wie sie es und wie jene, die Bücher in der islamischen Rechtswissenschaft und Religionswissenschaft verfaßt haben, praktizierten, einfach nur dann, wenn die richtigen Regeln der Grammatik angewandt werden und wenn die im Koran und Hadith geläufigen Ausdrucksformen ohne Zuhilfenahme eines verlässlichen historischen Wörterbuches bekannt sind. Sie führten ihre Beweisführungen durch und erklärten dann, dieser Hadith sei echt, jener unecht bzw. erfunden, diesen Koranvers müsse man so verstehen, jenen so. Das ist Fundamentalisierung. Und es ist diese Art von Fundamentalisierung, die in den Schulen heute noch unterrichtet und eingetrichtert wird.

Aber nach dem 13. und 14. Jahrhundert hat selbst auch diese Denkübung, die zur Kenntnisfindung bzw. Erkennung des Authentischen führt, auf den man aufbauen kann, nachgelassen. Und so sind wir zu einem Zustand gekommen, der beinahe illusionär ist. Es gibt das Fundament des religiösen islamischen Rechts, das durch eine selbstständige Interpretation der Quellen und eigenen Urteilsbildung über rechtliche theologische Fragen von den Gelehrten entwickelt ist und von den  zwölf Imame abgesegnet ist – der Imam ist unfehlbar, er befürwortet und entscheidet. Und wir haben uns mit diesem Zustand begnügt. Einen weiteren Bedarf, die Erstellung der Fundamente neu zu bedenken, gibt es nicht.

Das andere  Beispiel, das ich ansprach, ist Ibn Rushds Buch Bidayat al-mugtahid wa-nihayat al-muktasid-„Die Anfänge des auf Quellenforschung beruhende selbstständigen Urteilfindens“. Wir können uns heute nicht mehr auf dieses Buch stützen. In dem Buch hat Ibn Rushd nur den Gesichtspunkt der malekitischen Richtung in Betracht gezogen und hat sie nicht mit anderen islamischen Rechtsschulen verglichen. Darüber hat sich bisher keiner Gedanken gemacht.

Und heute, nachdem der Geist sich entwickelt hat zu dem, was wir heute Modernismus nennen …. So lesen Sie doch bitte die Philosophen von heute in Deutschland, Frankreich, England und ja, lesen Sie auch die amerikanischen Philosophen. Selbstverständlich hat Amerika auch Philosophen hervorgebracht. Wenn man ihre liberale pragmatische Philosophie mit der von Kant und Hegel vergleicht, die auf eine ganz andere Art und Weise und auf einem ganz anderen Niveau Philosophie praktizierten, werden wir den Unterschied sehen.

Wenn wir all die heutigen Philosophen lesen, die sich z.B. fragen: „ Wie legen wir die Grundlagen für eine ethische Urteilsbildung fest?“ …..Ethik? Was sind die Grundsätze der Ethik? Nach welchen Werten können wir heute unseren Zeitgenossen in den demokratischen Gesellschaften ethische Prinzipien aufzwingen, die unser heutiger Verstand akzeptiert, anerkennt und denen er gehorcht? Ich war in Frankreich Mitglied der Ethik-Kommission, die sich Gedanken machen sollte über die Durchführung von Ethik in den biologischen Wissenschaften und die all unseren Vorstellungen vom Menschen und vom Zustand der Menschheit umfasst. Wenn wir uns dafür in der Ethik-Kommission versammeln, überlegen wir uns erst einmal: Wann können wir den Menschen von seiner biologischen Definition her als Mensch betrachten? Erst danach befassen wir uns mit dem ethischen Urleil, wie wir es nennen. Wir müssen von der Basis ausgehen, und die ist biologisch. Sie ist nicht vom Himmel herabgesandt und nicht mit irgendwelchen Texten verbunden.

Das hier hat jetzt wenig Zusammenhang mit dem, was ich eben skizziert habe. Was uns sich nun stellt, ist die Frage nach den Religionen. Obwohl heute die Religion eine wichtige Rolle in der Gesellschaft spielt, hat sie hauptsächlich jedoch eine politische Rolle, die nur im Kleid der religiösen Ansprache getarnt ist. Wie erst einmal steht es dann mit dem Problem aller Probleme, dem arabischen Denken, insbesondere dem von heute?

Wir müssen uns über das Phänomen der Religion – übrigens ein anthropologischer Begriff – Gedanken machen. Unbedingt muss man sich diese Frage stellen, damit das Phänomen logisch analysiert werden kann und damit unser Verstand es begreift, insbesondere was den Islam anbetrifft, eine unter vielen Religionen, die um uns herum existieren und die mit der Sprache des Terrors sprechen. Der Hinduismus begegnet den Islam mit Terror, der Islam spricht die Sprache des Terrorismus, wie es der Westen nennt. Gewalt! Gewalt in dieser historischen Entwicklungsstufe der Menschheit ist ein Phänomen, das uns neu erscheint, als hätte es seit der Schöpfung der Welt in keiner Gesellschaft bisher Terror und Gewalt gegeben.

Gewalt ist eine Dimension, die zum Menschenleben gehört. Sie ist in unserem Körper biologisch und in unserem Nervensystem verwurzelt.

Gewalt ist mit den Ideen genährt, die man unseren Kindern in der Schule von klein an vermittelt. Die Kinder können ihrem Lehrer nicht widersprechen und sagen: „Herr Leher, Sie sind ignorant und bringen uns Ignoranz bei!“ So lange wird der Lehrer die Schüler einschüchtern, bis sie ihm hörig werden, bis sie von ihm die Ignoranz gelernt haben. Es gibt keinen anderen Ausweg als den, die heranwachsenden Generationen so zu erziehen, dass sie sich über das Phänomen der Gewalt informieren. Denn Gewalt hat einen politischen Wert, der unumgänglich ist. Alle Revolutionen, die wir in der ganzen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, Aufstände und Befreiungskriege, basieren auf Gewalt. Auf diese Weise produziert die Gewalt Helden und Führer, die zum Oberhaupt ihrer Völker werden.

Die Gesellschaften wissen, dass der politische Wert der Gewalt sich ändert. Durch die Geschichte wird er zu einem ethischen Wert und später zu einem national patriotischen Wert, alle glauben an den patriotischen Wert und das Volk befeiert ihn.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, wo wir angekommen sind und wie weit wir uns von Ibn Rushds Zeitalter und von den gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und religiösen Werten, die damals gültig waren, entfernt haben. Ein anthropologische Ansatz zur Definition von Gewalt stand damals nicht zur Debatte, gehört also zu den „ungedachten“ Dingen.

Nur so dürfen wir verstehen, warum es diese neuen Termini gibt, die wir beim Abfassen von Themen, über die das Nachdenken nicht erlaubt ist, benutzen. Wenn ich sage „darüber, worüber man in den heutigen islamischen Ländern nicht denken darf“, meine ich an erster Stelle die philosophischen Gedanken, die historisch aus religiösen, kulturellen und politischen Gründen zu den verbotenen Dingen gehören. Wenn wir das „Ungedachte“ zu denken verbieten, dann geschieht mit uns wie es den Mu’taziliten geschah. Die Frage über die „Erschaffung des Korans“ war ein Thema, über das man sich Gedanken machte. Und viele taten dies, diskutierten und debattierten mit anderen Philosophen darüber. Dann kam der Kalif al-Qadir jedoch, der über die offizielle qadiriyya-Schule öffentlich verlauten ließ, dass jeder, der vom Koran als etwas „Erschaffenes“ sprach, für vogelfrei betrachtet werden sollte. Die Auseinandersetzung mit einem wichtigen Thema wie das von der „Erschaffung des Korans“ wurde zum „Ungedachten“ erklärt.

Der Begriff also führt uns wieder zurück in die Vergangenheit, zur Soziologie des Denkens. Viele sind der Meinung, dass „Das Ungedachte“ ein philosophischer Begriff ist. Nein, es ist kein philosophischer Begriff. Ich beschreibe gerade nur die Situation, in der sich Geist und Denker in einer der Gesellschaften befindet. Heute beispielsweise habe ich Ideen. Es gibt Situationen, da kann ich meine Gedanken nicht erklären oder sie nicht vor einem Publikum aussprechen. Das Publikum kann nicht immer sofort begreifen, was ich meine. Mit Studenten ist das anders, da haben wir Zeit, Begriffe zu definieren und darauf aufzubauen. Jedoch in einer Vorlesung oder in einem Buch, tut mir leid, da kann ich nicht alles sagen, was ich will. Das ist eine Situation, die mich mit Ibn Rushd und seiner Erfahrung verbindet. Die  malikitischen Rechtsgelehrten haben ihn angegriffen. Ihnen gefiel es gar nicht, dass er sich mit den importierten Wissenschaften beschäftigte, die der Philosophie gewidmet waren.

Heute werde ich wegen Scheich Muhammad al-Ghazali in meiner Heimat Algerien für ungläubig erklärt……. Jawohl, Herr Botschafter von Algerien, Sie wissen darüber genau Bescheid , Sie kennen die Gründe. Es war im Jahre 1987, als ich vor einem algerischen Publikum im Rahmen eines islamischen Kolloquiums in der Hauptstadt Algeriens sprach. Ich war gerade dabei, aus meinem Buch über das arabische Denken den Satz zu erklären: „Der Koran ist in der Sprache des Mythos geschrieben“. Adil Awwa übersetzte „Mythos“ aus dem Französischen ins Arabische mit Ustura Legende, das in einer Zeit, als selbst in Frankreich noch kein Unterschied gemacht wurde zwischen Ustura Legende und Qassas Geschichten. So wurde mein Satz zu: „Der Koran ist in der Sprache der Legende“ geschrieben. Das war eine Katastrophe.

Seht euch die arabische Sprache an! Sprache lässt uns zu ihrem Gefangenen werden, bis wir uns nicht mehr bewegen können. Sie schafft uns Grenzen.  Solche Begriffe sind kein Problem in der französischen, deutschen und englischen Sprache, da sie alle ihre Wurzeln in der griechischen Sprache haben. Mein Problem war, dass ich in der französischen Sprache schreibe. Ich hätte natürlich auch in der arabischen Sprache, die ich auch beherrsche, schreiben können, aber ein Buch auf  Französisch ist 30 Bücher auf Arabisch dick! Nur weil es im Arabischen zu wenig geeignete Begriffe gibt für das, was ich auf Französisch sage. Das Problem lag nicht beim Dolmetscher Adel al-Awwa, der Philosophie-Dozent in Syrien ist.

Nicht nur er, sondern die meisten arabischen Autoren und Lehrer benutzen das Wort Ustura für den Begriff Mythos. Der Begriff Mythos ist ein anthropologischer Begriff, kein historischer. Er ist eine von Menschen geschaffene Grundaussage. Es geht nicht, einfach zu sagen: Das haben wir von Aristoteles und Plato. Mythos tritt auf, wann immer es Logos gibt. Wir trennen die beiden nicht voneinander. In jedem Diskurs, die der menschliche Geist hervorbringt, in jeder Sprache und in jeder Kultur, ringen Mythos und Logos miteinander. Und ich, was soll ich nun tun, der ich Muslim und Araber bin? Soll ich all diese Menge an Begrifflichkeiten zusammen sammeln und in die Sprache des Korans hinein interpretieren, in jene koranische Sprache, die sehr wohl den Unterschied kennt, ganz klar und deutlich, zwischen Legenden und Geschichten? In der Yusuf-Sure heißt es: „Wir erzählen dir die besten Geschichten“.

Deshalb habe ich gekämpft und kämpfe immer noch,  um diese ungenaue geläufige Übersetzung ins Arabische zu bereinigen. Das wirkliche Problem der Verständigung in Richtung Aufklärung liegt bei den arabischen Völkern, bei der Presse und bei dem Diskurs der Strasse. Und die Schule tut gar nichts dagegen, im Gegenteil, sie treibt ganz mit den volkstümlichen Überzeugungen der Strasse. Das ist leider die Tatsache, das seht ihr ja selbst.

Ich hoffe, dass ich deutlich machen konnte, inwiefern wir mit dem Geist von Ibn Rushd, der sich mutig und standfest gegenüber der theologischen Kampagne der islamischen Rechtsgelehrten behauptete, verbunden sind. Jene Rechtsgelehrte, die man heute politisch in ein System „einverleibte Intellektuelle“ nennen würde: Sie arbeiten in dem politischen System und gleichzeitig an wissenschaftlichen Erkenntnissen, die aus dem traditionsgemäßen fundamentalistischen Denken hervorgehen, wie ich es vorhin beschrieben habe. Es unterscheidet sich vollkommen vom philosophischen Denken. Das alles verbindet uns mit Ibn Rushd.

Wir brauchen einen Ibn Rushd, wie brauchen al-Farabi, Ibn Sina und all jene Denker, die Weitsicht des menschlichen Denkens besaßen. Aber zur gleichen Zeit sollten wir uns mit anderen Mitteln bewaffnen, um neue Aufgaben zu lösen. Es sind Probleme, die jeden Tag höchste Priorität haben. Wir sehen das jeden Tag im Zuge der Auswanderung von Muslimen in europäische Staaten, was das an gesellschaftliche, politische und kulturelle Folgen mit sich zieht. Insbesondere kennen wir das bei uns in Frankreich, in Deutschland und in England.

Das, was da zusammenprallt, ist nicht der Zusammenprall der Kulturen, Clash of Civilization, wie es Jener nennt, den ich nicht beim Namen nennen will, denn er ist für viele Menschen schon so etwas wie ein Prophet geworden, auf den sie sich gern berufen. Das nicht….. aber es ist ein Zusammenprall von institutionalisierter Ignoranz. Die institutionalisierte Ignoranz ist ein historischer Begriff, ein sprachlicher und anthropologischer Begriff. Es gibt keine Gesellschaft, kein Denksystem, das nicht in seiner Ordnung seine eigene Ignoranz produziert. Wir spüren nicht, dass das, was wir sagen, Ignoranz ist. Es geschieht in allen arabischen Gesellschaften, seit wir die anfängliche Aufklärung verlassen haben und uns in ideologische Kämpfe begeben haben, die für das freie Denken tötend sind. Das Freie Denken ist es, weshalb wir uns hier versammelt haben.

Ich danke denjenigen, die es ermöglicht haben, dass wir hier versammelt sind und ich wünsche dem IBN RUSHD Fund ein langes Leben und eine Erweiterung seiner Ambitionen, so dass es vielleicht in jedem arabischen Land eine Vertretung hat. Ich sage dies vor dem Botschafter der Arabischen Liga. Ich hatte ja die Ehre, den Generalsekretär der Arabischen Liga, Amr Musa, am 25.9.2001 zu treffen, und ich erzählte ihm damals über ähnliche Gedanken: von der Gründung einer Institution wie diese. Er hatte mir damals versprochen, dass er sich bemühen werde, die Grundsteine dafür zu legen, damit wir darauf aufbauen können. Wir hoffen, dass wir auf diesen Ibn Rushd Fund aufbauen können.

Herzlichen Dank!
 

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