Zwei Arten der Staatsbürgerschaft – Rede des Preisträgers Azmi Bishara

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Mit der zunehmenden Tendenz, Demokratie missionarisch verbreiten zu wollen, sei es durch mahnende Predigt oder als Gebote und Verbote, mehren sich auch die Versuche einer Definition: Was ist Demokratie? Wie kann man Demokratie so prägnant und präzise definieren, dass es im Rhythmus der heutigen Medien einfach und schnell vermittelbar ist?

Tatsache ist, dass es für die Demokratie keine kurze Beschreibung oder Gebrauchsanweisung gibt. Der Grund dafür liegt nicht einfach in der populistischen im Sinne des kulterellen Relativismus befassten Behauptung, dass es viele verschiedene Arten von Demokratien gäbe, noch liegt es in der sinnvolleren Behauptung, dass die Demokratie sich als Begriff, Realität und Regierungssystem im Verlauf der Geschichte ändert, wandelt und entwickelt. Denn was wir heute unter dem Begriff Demokratie verstehen, ist nicht das, was die alten Griechen zu ihrer Zeit unter den Begriff verstanden haben.

All dies ist längst bekannt und selbstverständlich und benötigt keine weiteren Ausführungen. Wir werden diese Faktoren, die für uns selbstverständlich sind, jetzt nicht anführen, um zu beweisen, daß es unmöglich ist, Demokratie in der Form von Fernsehspots zu definieren, wie man sie bei Werbungen kennt.

Demokratie ist ein hochkompliziertes politisches, gesellschaftliches und kulturelles System. Man kann sie nicht in Kürze vermitteln. Es macht auch wenig Sinn, sich auf missionarische Werbung für Demokratie zu beschränken. Trotzdem ist die Verbreitung der demokratischen Kultur von äußerster Wichtigkeit.

Was wir brauchen, ist nicht, die Menschen zu belehren, was Demokratie ist. Sondern ihnen die notwendigen Voraussetzungen und Grundlagen für eine Demokratie zu erklären, auf die bei der Errichtung einer Demokratie, wie immer man sie definieren mag, absolut nicht verzichtet werden darf. In diesem Sinne ist Demokratie nicht relativ, und an einer bestimmten  Stufe ihrer Entwicklung ist sie unvorstellbar ohne bestimmte Voraussetzungen.

Was sind diese Grundlagen der Demokratie? Trennung der staatlichen Gewalten,  Unabhängigkeit der Justiz, Wahlrecht, eine Regierung der Mehrheit durch parlamentarische Vertretung, liberale Freiheitsrechte, die in liberalen Demokratien zu allgemein anerkannten Rechtsgrundlagen geworden sind, Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre…… Es ist heute undenkbar, sich eine liberale Demokratie ohne diese Grundlagen vorzustellen, Grundlagen, die sich im Zuge der Wechselwirkung mit der politischen und sozialen Wirklichkeit und der theoretischen Auseinandersetzung mit der Demokratie stets im Wandel befinden.

Wollten wir dennoch den Menschen die Grundidee bzw. den Kern der Demokratie vermitteln, um die Basis dieser Grundlagen zu verankern, so würden manche aufschreien: Es ist „die Idee der Freiheit“, oder: „Es ist die Freiheit des Indviduums, seine moralischen Werte selbst zu definieren.“, oder : „Es ist die Autonomie des Individuums“, oder „Es ist die Idee des Wettbewerbs“ u.s.w. Tatsächlich aber läßt sich kein direkter Gewinn für die Demokratie durch eine philosophische Debatte über diese abstrakten Begriffe herleiten, weil zwischen Theorie und realer praktischer Demokratie eine unendliche Vielzahl von Zwischenstufen und Ableitungen liegt. Eine philosophische Debatte über Demokratie muss nicht unbedingt zur Entstehung  eines demokratischen, politischen und gesellschaftlichen Systems führen.

Die Idee der Staatsbürgerschaft ist die Grundidee des demokratischen Systems. Die Realität der Staatsbürgershaft ist die historische Stufe, die notwendig ist für die Entwicklung des demokratischen Systems. Staatsbürgershaft ist eine Einheit von Theorie und Praxis, Idee und Wirklichkeit, umfassender noch, erschöpfender und universeller als alle anderen genannten Grundlagen.

Nicht jede Staatsbürgerschaft ist demokratisch, genau so wenig wie jede Ware ein Kapital bedeutet. Der Begriff  Ware ist jedoch die Grundlage für den Begriff Kapital, sowohl historisch als auch von der Struktur her. Ebenso können wir argumentieren, dass der Begriff Staatsbürgerschaft die Grundlage für  Begriff und Bedeutung der Demokratie ist.

Die  Keimzelle, – kleinster Bestandteil einer Demokratie, das DNA im Körper der Demokratie – ist die Staatsbürgerschaft. In dieser kurzen Dankrede will ich versuchen, folgende Behauptungen aufzustellen:
1) dass die Idee der Staatsbürgerschaft und ihre Praktizierung eine Vorstufe zur Demokratie bildet, selbst wenn sie in einem noch nicht demokratischen System erfolgt.

2) dass es nach Gründung eines demokratischen Systems immer noch im Rahmen der Demokratie einen Kampf zwischen zwei Begriffen von Staatsbürgerschaft gibt: die der Mitgliedschaft, bei der sich die Rechte aus der Angehörigkeit zur Gruppe ableiten, und die der Liberalität, bei der sich die individuellen und kollektiven Rechte aus der  Staatsbürgerschaft ableiten. 

3) dass die Problematik der Identitätspolitik weiter anhält, weil die Auseinandersetzung zwischen beiden Konzepten in den unterschiedlichen Demokratien noch nicht entschieden ist.
Vergegenwärtigen wir uns die Diskussion, die derzeit in der Theorie über Demokratie entfacht ist. Was kommt zuerst? Die Gründung eines demokratischen Systems und die Einführung des allgemeinen Wahlrechts oder die demokratische Kultur? In diesem Zeitalter, wo die Erfahrungen anderer Völker reproduziert und entstellt bis in unsere Schlafzimmer dringen können, können wir ohne große Mühe verfolgen, wie die Entwicklung der Demokratie in manchen Ländern ins Stolpern geraten ist, weil bei demokratischen Wahlen  undemokratische Kräfte gewählt wurden.

Wir haben gesehen, wie andere Länder andere Erfahrungen mit der Demokratie gemacht haben, in denen das demokratische System errichtet wurde ohne abzuwarten, bis sich eine demokratische Kultur verbreitet hat wie etwa Ende des Nationalsozialismus, als man in  Europa Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts unmittelbar nach der faschistischen Diktaturherrschaft die parlamentarische Demokratie eingeführt hat.

Die Geschichte ist ebenso Zeugin eines weiteren klassischen Beispiels der Demokratie, in der das Wahlrecht stufenweise verallgemeinert wurde und parallel dazu sich eine demokratische Kultur entwickelte.

Es scheint aber, daß man heute nicht mehr auf dieses historische Modell der langsamen Entwicklung zurückgreifen kann. Der Wunsch nach Demokratie ist groß, und die Vorstellung, die Demokratie in ihrer jetzigen fertigen Form auf jeden Fleck dieser Erde anwenden zu können, scheint real und erstrebenswert. Es erscheint unlogisch und unmöglich, die Demokratie nur teilweise zu praktizieren, z.B. durch das Erlauben des Wahlrechts ausschließlich für Bürger, die eine demokratische Kultur besitzen, oder  ausschließlich für Inhaber eines Hochschulabschlusses, wie es vor kurzem ein bekannter arabischer demokratischer Intellektueller vorgeschlagen hat.

Kommen wir also jemals aus diesem Circulus vitiosus – von der Henne und dem Ei – heraus? Aus jenem Teufelskreis, der sich um alles, was mit der Anwendung der Demokratie und dem Anspruch des Volkes auf Demokratie, in den nicht-demokratischen Ländern, darunter auch den arabischen, dreht? Bleiben wir für immer Gefangene in diesem Teufelskreis?

Die Antwort ist: Ja, solange wir nicht verstehen, dass es keine Möglichkeit für die Verbreitung der demokratischen Kultur gibt und keine Möglichkeit für die Achtung der Spielregeln der Demokratie, der Kultur der Rechte, was das Verhältnis des Individuums zum Staat und zu den Mitmenschen betrifft, … solange diese Regeln im Theoretischen bleiben und nie ausgeübt werden.

Aber wie soll man Demokratie ausüben bevor man ein demokratisches System einführt? Die Antwort ist kurz und äußerst schmerzvoll, es gibt keine Möglichkeit, vor der Herausforderung, die sie fordert, zu entrinnen: Es ist schier unmöglich, Demokratie undemokratisch zu erfahren.

Die Staatsbürgerschaft ist die einzige historische Gelegenheit, auch in nicht-demokratischen Ländern die Unabhängigkeit der Justiz und die Verwirklichung der Gleichheit vor dem Gesetz zu gewährleisten, die Grundrechte vor der Willkür eines Machthabers zu schützen und den Anspruch der Bürger auf ihre politischen Rechte zu erheben.

Ist man seiner Bürgerschaft eines Staates bewusst, so kann man politische Rechte fordern, als Angehöriger des Staates  oder als Steuerzahler in einer anderen Version. Ist man jedoch nur Untertan, so hat man keine politischen Rechte zu erwarten, man erwartet lediglich, dass man gut behandelt wird oder bestenfalls toleriert wird. 

Die Staatsbürgerschaft ist die Basis, aus der die Forderung nach Demokratie hervor geht, nicht nur, um durch Wahlen die Macht friedlich zu wechseln, sondern um die Bedeutung  der Staatsbürgerschaft selbst durch die Ausübung der Demokratie zu erweitern. Das Regieren einer Mehrheit, welches sich nicht auf die Basis der Staatsbürgerschaft stützt, ist in Wirklichkeit eine Diktatur im Namen der Mehrheit. Demokratie bedeutet nicht allein das Regieren einer Mehrheit, sondern das Regieren  der Mehrheit auf der Grundlage der demokratischen Werte, darunter  die Bürgerrechte.

Die Staatsbürgerschaft ist eine andere Ausdrucksform der Souveränität der Nation. Die nationale Souveränität ist nicht vollständig ohne Bürgerrecht und Demokratie. Ein politisches System, das aus einem absoluten Staat und Untertanen besteht, erzeugt  keinen Dialog, der zur Demokratie führt, weil hier die Gegensätze auseinander – nicht in einer Einheit – stehen. Die dialektische Einheit von Individuum, Gesellschaft und Staat ist die Grundlage für die Entwicklung eines demokratischen Systems. Nur diese dialektische Einheit ist imstande, einen Diskurs zustande zu bringen, bestehend aus Staatsbürger, Zivilgesellschaft und demokratischen Staat. Ein Staat ohne Bürger kann nicht die Souveränität eines Volkes verkörpern. Regierte Untertanen ohne Staatsbürgerschaft – das ist weit von der Idee und der Entwicklung der Rechtstaatlichkeit entfernt.

Die Staatsbürgerschaft bestimmt genau das Verhältnis des Individuums zum Staat und zur  Gesellschaft oder zu den anderen Individuen, die als Gesellschaft oder als Gemeinschaft definiert werden. Wenn ich vom Individuum spreche, meine ich nicht das autonome Individuum, das sich mit der Auflösung der organischen Gemeinschaft als Subjekt sieht, sondern den Menschen als Einzelnen. Die Rechte eines Einzelnen können aus seiner Zugehörigkeit zu einer Menschengruppe entstehen, die sich politisch organisiert hat. Früher nannte man eine solche Gruppe „Die Gesellschaft der Polis“ und in unserer Zeit bezeichnet man sie als „Nation“. Durch diese Rechte des Einzelnen kristallisierte sich das Verständnis einer Staatsbürgerschaft, deren Rechte sich aus der Zugehörigkeit zur Gruppe, also durch die Identität, ableiten lassen. Merken sie trotzdem, dass Identität kein Thema war für subjektive Reflexionen wie in der modernen Gesellschaft.

Im alten demokratischen Athen gab es keine Bürgerrechte in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen, sondern bestimmte Regeln des Verhaltens, genannt heute „Rechten und Pflichten“, die sich durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben haben, also etwa wie in einer Sippe oder in einem Stamm, wenn man so will. Aus dieser Perspektive war die Athener Demokratie weitgehend sippenhaft.

Bei den alten griechischen Philosophen finden sich keine Überlieferungen, die die Religion des Einzelnen oder seine Willensfreiheit betreffen, sowie keine Überlieferungen  über Minderheiten oder Rechte von Minderheiten, weil es sie nicht gab. Es gab nur eine politische Gruppe von Staatsbürgern mit gemeinsamer Identität. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe war die Voraussetzung für die Erlangung der Rechte. Ohne gemeinsame Identität gab es keine Rechte.

Heute verkörpert die Staatsbürgerschaft mehrere politische und soziale Werte, die man auch kommunale Werte nennen kann. Die Entstehung dieser Werte verläuft wie ein Faden in der Entwicklung der Demokratie, der die Gegenwart mit der Vergangenheit verknüpft. Woher kommt die politische Kultur, die den Staat zum Besitz einer bestimmten Gruppe mit einer bestimmten Identität erklärt, die in ihm nur die Verkörperung ihres kollektiven Willens, das heißt ihrer Souveränität sieht, sondern auch darüber hinaus und das ist noch wichtiger, dieser Gruppe einen Besitzanspruch gegenüber ihrem Staat und ihrer Demokratie zuweist, der jedem ihrer Angehörigen zusteht? So entsteht die Verbindung zwischen der Identität und dem Erwerb von Rechten, in dem allein eine bestimmte Gruppenidentität dazu berechtigt ist, während alle anderen davon ausgeschlossen werden. Hierzu dienen auch nationaler oder religiöser Extremismus oder der moderne Fremdenhass. In Staaten, in denen der Militärdienst für die Nationalidentität einen hohen Stellenwert hat, steht auch die Teilnahme am Militärdienst im Vordergrund, unabhängig von allen anderen Faktoren.

In dieser Auslegung glauben manche Nationalisten ein Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten darzustellen, aber eigentlich wird eine bestimmte Politik und Ideologie der Identität betrieben.
Stellen Sie sich eine Demokratie einer souveränen Gruppe vor, in der sich ihre religiöse und nationale Identität vereinen. Hier wird sogar der religiöse Fanatismus Ausdruck der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, aus der sich Rechte ableiten. Die Betonung der religiösen Symbole wird hier zum Ausdruck nationaler Identität. In demokratischen Kulturen, wo Rechte des Bürgers aus seiner Identität abgeleitet werden, und wo die Gruppe Besitzansprüche an den Staat erhebt, wird auch die Illusion erzeugt, dass Fanatismus  mehr Aktienanteile am Staat  einbringt.

Stellen Sie sich eine  historische Situation vor, in welcher die Mehrheit dieser Gruppe mit dieser  Religion-Nationalität gar nicht in diesem Staat lebt, der Staat sich aber trotzdem als den Staat dieser Gruppe sieht.

Auf der anderen Seite gibt es in diesem Staat eine relativ grosse Gruppe von Ureinwohnern, die nicht dieser Religion-Nationalität angehören und dieser Staat sich nicht als ihren Staat definiert. Wir können uns vorstellen, wie der Begriff  der Staatsbürgerschaft in einer solchen Demokratie von  seinem demokratischen Inhalt entleert wird.

Diese Tatsachen bringen unendliche Probleme. Die Demokratie selbst wird ihres Inhalts entleert. Wenn eine Person  zu einer bestimmten Religion konvertiert, wird ihr das Privileg gegeben, mehr Rechte als die Ureinwohner zu erlangen. Wenn sich dieser Staat zum Beispiel auch noch in militärischen Auseinandersetzungen mit den Nachbarn befindet, werden Militärdienst und die Werte, die mit ihm zusammenhängen, zur Identität und zugleich zur Bestätigung der Zugehörigkeit zur Gruppe, die zum Erlangen zusätzlicher Privilegien und zum Besitzergreifen von mehr Rechtsansprüchen führt. Durch Identität, religiöse und nationale, und durch Ersatzteile der Identität wie Militärdienst kauft man Aktien im Staat.

Parallel gegenüber dieser Tendenz zur Bindung der Staatsbürgerschaft an eine bestimmte Identität verläuft auch eine andere Linie in der Entwicklung der liberalen Demokratie, wonach die Bürgerrechte allein aus der Staatsbürgerschaft abgeleitet werden sollen. Der Staat soll Staat der Bürger sein und nicht der Staat einer Nationalität oder einer ethnischen Gruppe. Es zeichnet sich in neuerer Zeit sogar eine Weiterentwicklung dieser Tendenz dahingehend ab, dass in der Konsequenz nicht mehr die Rechte des Einzelnen aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe abzuleiten sind, sondern dass die Identität selbst und die kollektiven Rechte eine mögliche Implikation aus den Rechten des Einzelnen zu gelten haben.
In diesem Sinn ist die Staatsbürgerschaft, die auf Gleichberechtigung beruht, das einzige Prinzip, das das Verhältnis zwischen Individuum und Staat regelt. Die einzelnen religiösen oder nationalen Identitäten werden aus dem Verhältnis zwischen Individuum und Staat neutralisiert. Gleichzeitig wird jedem Einzelnen die Freiheit gegeben, sich mit jeder beliebigen Gruppe, Kultur oder Religion  zu identifizieren, solange diese Identität die Rechte der anderen Bürger, so wie wir sie in einer entwickelten liberalen Demokratie kennen, nicht verletzt.

Wir alle wissen, dass diese Überlegungen sehr abstrakt sind. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe und  dem Recht auf Staatsbürgerschaft. Letztere bekommt man nur ausschließlich durch Geburt in einen demokratischen Staat oder dadurch, dass die Eltern Bürger dieses Staates sind und das ist auch richtig so. Außer diesen Fällen darf keine sofortige Erlangung der Staatsbürgerschaft in diesem Sinne erfolgen.

Zwischen Staat und nationaler Gruppenidentität besteht eine vielfältige Beziehung, denn geschichtlich ist der Nationalstaat eine Verkörperung der Souveränität einer nationalen Gruppe, die sich an der Entstehung des Staates und der Bildung seiner Grenzen beteiligt hat, genauso wie der Staat diese nationale Gruppe auch mitgeformt hat.

Diese Beziehung gilt aber nur auf kollektiver  Ebene und nicht auf persönlicher Ebene. Wenn der demokratische Staat geschichtlich die Selbstbestimmung einer bestimmten Nationalität verkörpert, bedeutet es nicht , dass der Einzelne, zugehörig zu dieser Nationalität, Aktienanteile im Staat erlangen kann, als ob das eine Firma wäre. Es bedeutet auch nicht, dass diese Personen mehr Rechte bekommen im Staat, weil sie von Eltern geboren sind, die diese Nationalität tragen.

Bei der weiteren Entwicklung der individuellen demokratischen Bürgerrechte beginnt die Differenzierung einerseits zwischen der Nation als Bürgergruppe im Staat, wo die Nation das andere nach außen gewendete Gesicht der Zivilgesellschaft wird , und andererseits zwischen nationaler Identität als kulturelle Identität, die dem Zusammenhalt der Mehrheit der Gesellschaft dient. Dieser Zusammenhalt soll den Pluralismus ermöglichen ohne Bürgerkriege. Die nationale Identität als politische Identität hat ihre politische Rolle im Staat nach der Gründung des Staates beendet. Der demokratische Staat ist der Staat aller Bürger und kann nicht ein Religionsstaat oder ein Staat für eine Gruppe Bürger oder einer Gruppe von Menschen außerhalb des Landes sein.

Es ist eine Tatsache, dass in einem demokratischen Staat über den Begriff Staatsbürgerschaft gestritten wird, aber letztendlich entscheiden sich die Demokraten für das Recht des Bürgers.
Nach dieser unterschiedlichen Auslegung der Bedeutung der Staatsbürgerschaft entstehen zwei Formen, wie man die Identitätsfrage behandelt:
Die erste Form behandelt die Identität als eine organische Frage und als Grundvoraussetzung für die Staatsbürgerschaft. Und somit auch für die Verhaltensregeln, die im übertragenen Sinne „Rechte und Pflichten“ genannt werden. Der Staat betrachtet diese Form als historische Verkörperung einer bestimmten Identität, wobei der Staat diese Identität wach hält und die eigene Geschichte selektiv schreibt, in der die Geschichte von verschiedenen Kollektiven als nationale Geschichte vereint wird.
Die zweite Form betrachtet die Identität als eine kulturelle oder historische Frage. Man versucht bei dieser Form die Wirkung der Identität auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat zu neutralisieren. Hier stehen die einzelnen Bürger an erster Stelle. Es führt am Ende zur Anerkennung, dass die Einzelnen das Recht zur Gestaltung der gemeinsamen Identität haben, sowie zur Anerkennung von Gruppenrechten, die aus dem Recht des Einzelnen abgeleitet sind und nicht im Widerspruch mit den Grundrechten des Einzelnen stehen.

Hier entsteht eine neue Gefahr, die in der liberalen Demokratie nicht erwartet wird, wenn die Identität in der inneren sozialen Auseinandersetzung als Instrument adoptiert wird. Hier kommt eine kulturell nicht demokratische Elite als Vetreter für partielle innere Identitäten hervor und versucht diese zu erzeugen, um sie dann in der Öffentlichkeit zu vertreten. Vertreter von angeblichen Identitäten wie einer religiösen Gemeinde oder einem Kreis, politisch reproduziert, werden als Ersatz für demokratische Kriteria gesetzt. Wieder wird die Bürgerschaft, die auf Gleichberechtigung beruht, hintergangen, obwohl es auf dem ersten Blick mit demokratischen Mitteln geschieht.

Ihr wisst, dass ich zu einem Volk gehöre, dem die Staatsbürgerschaft vorenthalten wird, weil es unter Besatzung lebt. Selbstbestimmungsrecht und Souveränität wird dem Volk Palästinas geraubt. Es ist unmöglich über Staatsbürgerschaft unter Besatzung und ohne volle Souveränität zu reden.

Ich habe bereits gesagt, dass die Staatsbürgerschaft das andere Gesicht der Souveränität ist. Aber ich bin andererseits Bürger eines Staates, in dem die religiöse oder nationale Identität als Basis des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Staat betrachtet wird. Ich bin Bürger in einem Staat, der nicht zu seinen Bürger gehört. Aus diesen beiden Blickwinkeln habe ich heute über die Bürgerschaft geredet.

Ich danke dem Ibn Rushd Fund dafür, dass er das Freie Denken in der arabischen Welt zum Thema seiner jährlichen Preisverleihung gewählt hat.

Azmi Bishara

Berlin 14.12.‏2002

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