Laudatio Ibn Rushd 2000

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Laudatio an Issam Abdulhadi anlässlich der Verleihung des Ibn Rushd Preises 2000 am 09.12.2000 vorgetragen von Pauline Aoun

Meine Damen und Herren,
es ist mir eine besondere Freude und Ehre, Sie alle hier – im Literaturhaus in Berlin – versammelt zu sehen. Hier würdigen wir heute die palästinensische Kämpferin und Frauenrechtlerin Frau Issam Abdulhadi mit dem IBN RUSHD PREIS für Freies Denken. Der Verein IBN RUSHD Fund for Freedom of Thought verleiht den Preis in diesem Jahr, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, für besondere Verdienste um die Rechte der Frau.

Der IBN RUSHD Verein würdigt Frau Abdulhadis fortwährenden schöpferischen Einsatz für die Rechte der Frau in der arabischen Welt und ihren Kampf um die Befreiung der Frau von den rigiden Regeln, Sitten und Gebräuchen, die die arabischen Frauen heute immer noch in ihren Handlungen einschränken.

Die Wahl der Preisträgerin erfolgte durch eine unabhängige Jury, die aus bekannten Persönlichkeiten aus Männer und Frauen besteht, die sich zusammensetzt aus 5 Persönlichkeiten aus verschiedenen arabischen Ländern. Alle Jurymitglieder haben sich selbst um die arabische Sache verdient gemacht.
Der Zufall wollte es, dass die Preisverleihung – deren moralischer Wert höher zu bewerten ist als der bescheidene finanzielle Wert – zeitlich nur wenig später stattfindet als die Würdigung einer anderen arabischen Frau, nämlich der algerischen Schriftstellerin Assja Djebar, die im Oktober den diesjährigen Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen hat, als Anerkennung für ihr Engagement für Frieden und Demokratie in ihrem Land und weil sie – wie es in der offiziellen Begründung der Entscheidung heißt – „einen wichtigen Beitrag zu einem neuen Selbstbewusstsein der Frauen in der arabischen Welt geleistet hat“.

Als Anfang des Jahres das Thema des Preises “ Kampf für die Rechte der arabischen Frau“ bekannt gemacht wurde, sagte ein bekannter Rechtsanwalt in Saida/Libanon: „Das, was der Verein IBN RUSHD macht, ist lobenswert, aber wäre es nicht besser, man wählte als Thema “ Emanzipation des arabischen Mannes?“

Sicherlich wäre das auch richtig und logisch. Denn der arabische Mann leidet nicht nur unter der Last der politischen Unterdrückung und Freiheitseinschränkungen tyrannischer Systeme, sondern er trägt auch die Fesseln ererbter reaktionärer Traditionen. Traditionen, die dem Manne billigen, seine autoritäre Willkür auf Frauen anzuwenden, Schicksal und Freiheit der Frau zu kontrollieren und die völlige Verantwortung zu tragen für das, was die Frau tut, denkt oder ausspricht, sei der Mann ihr Vater, ihr Bruder, ihr Ehemann, ihr Sohn oder Bevollmächtigter. In konventionellen arabischen Ländern kann der Mann nicht wirklich den ersten Grundsatz der internationalen Erklärung der Menschenrechte begreifen, der besagt, dass alle Menschen frei geboren sind und gleichwertig sind in Würde, Rechten und Pflichten. Er kann nicht die Frau als gleichgestellten Partner sehen. Er ist ein Gefangener seiner Erziehung und Unterdrückung.

Wenn der arabische Mann ein Opfer des politischen Despotismus und des sozialen Zustands ist, so ist die Frau ein Opfer des politischen und sozialen Zustands einerseits und ein Opfer der willkürlichen Handlungen des Mannes in der Familie und Gesellschaft andererseits.

Der Mann entwirft die Gesetze, die die Frau befolgen soll. Er sieht die Aufgaben der Frau im Haushalt, im Kinder gebären und Kinder erziehen … Wie soll sie aber Generationen erziehen? Was soll eine Frau den Kindern lehren? Welche Prinzipien und Grundsätze kann sie ihnen mitgeben ? Welche persönliche Freiheit? Charakter und Willenskraft? Etwa Selbstständigkeit oder Tüchtigkeit und Wissensbegierde? Wo soll sie all dies herholen? Denn, wer nichts hat, kann auch nichts geben.

Die Frau soll das Recht auf Bildung verlangen und erlangen, nicht nur, weil sie als Mutter die erste Schule für kommende Generationen bedeutet und den beispielhaften Menschen darstellt, sondern weil sie dem Manne ebenbürtig ist : sei sie verheiratet oder nicht, hat sie eine Tochter oder einen Sohn geboren oder sei sie kinderlos. Keiner ihrer primären Rechte darf mit dem Leben als Ehefrau oder Mutter verknüpft werden.

Wir stellen die Frage: Kann der Mann ein Motiv haben, ein Gesetz zu entwerfen, in dem einige seiner Rechte der Frau auch gegeben werden? Nein, denn Rechte werden genommen und nicht gegeben. Wenn die Frau will, dass ihre Lage sich verbessert, dann muss sie den ererbten falsch interpretierten Gesetzen den Kampf ansagen.

Freiheit in all ihren Formen ist das kostbarste, das man im Leben haben kann. Die Intifada, die Erhebung des tapferen palästinensischen Volkes, deren Entwicklung wir jede Stunde verfolgen können, ist nichts anderes als der dringende Wunsch, furchtlos dem Begehren zu folgen, Ungerechtigkeit abzulehnen und Freiheit und Unabhängigkeit zu verlangen.

Die Wahl der Jury, Frau Issam Abdulhadi mit dem diesjährigen IBN RUSHD Preis für Freies Denken zu ehren, ist im Hinblick auf die historischen Tage, deren Zeuge wir sind, ein deutliches Zeichen. Frau Issam Abdulhadi stammt selbst aus Palästina, dem Land der al-Aqsa Intifada, in dem Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder mit unvergleichbarem Mut um ihre Befreiung von der Besetzung kämpfen und zu Hunderten den Kugelschüssen und Bombenattacken des barbarischen israelischen Militärs zum Opfer fallen. Sie kämpfen für eine freie unabhängige Heimat, deren Hauptstadt Jerusalem ist.

Meine Damen und Herren,
im vergangenen Jahr sind es 100 Jahre her, dass das berühmteste Buch über die Emanzipation der arabischen Frau erschienen ist. Es ist das Buch des Denkers und Gesellschaftskritikers Qasim Amin. In Kairo wurde das Jubiläum entsprechend groß gefeiert. Denn es war Qasim Amin, der in seinem Buch „Emanzipation der Frau“ die damalige trostlose Lage der arabischen Frau kritisierte und beschrieb: Die Frau sei ein Wesen in Ignoranz und Abhängigkeit.

Betrachten wir die Lage der arabischen Frau heute, so werden wir schnell erkennen, dass ein Teil dieses Bildes in vielen arabischen Gesellschaften immer noch vorherrscht. Es gibt jedoch auch viele positive Entwicklungen, die sich seit diesem Zeitpunkt durch Qasim Amins Buch entfaltet haben. Die Entwicklungen liefen parallel zu der Bewegung von Tahir Haddad in Tunesien, aus der später Gesetze für die Rechte der Frauen hervorgingen, die den Weg zur Gleichberechtigung ebneten. Dies hatte auch Einfluss auf Syrien, Libanon und Irak, wo Reformbewegungen die gleichen Ziele forderten.

Ohne Zweifel hat die Frauenbewegung, die seit ihrer Entstehung Höhen und Tiefen erlebte, große Leistungen vollbracht, deren Ergebnisse wir in manchen arabischen Ländern in der Anwendung von Reformprogrammen sehen. Auf der politischen Ebene zum Beispiel hat die Frau bereits hohe politische, diplomatische und juristische Ämter erklommen, sie hat das Recht, zu wählen und zu kandidieren. Auf gesellschaftlicher Ebene hat sich auch einiges getan: Das einseitige Recht des Mannes, die Ehescheidung einzureichen, wurde in einigen arabischen Ländern erschwert, Frauen haben nun diesbezüglich manchmal das gleiche Recht wie Männer. Das Recht des Mannes, mehr als eine Frau zu heiraten, wurde eingeschränkt. In einigen Ländern verzichtet man nun auch auf eine Vollmacht des Ehemannes, wenn die Frau allein ausreisen oder arbeiten will. In anderen Ländern kämpfen Frauen immer noch gegen den gesellschaftlichen Druck, sich auf radikale Art verschleiern zu müssen. All diese Veränderungen begleiten erklärende Auslegungen des Korans und des islamischen Gesetzes. Die islamische Religion ist in ihrem Wesen gegen rückschrittliche Traditionen und ihre Übel.

Jedoch muss die arabische Frau im Kampf gegen Despotismus, Rückschrittlichkeit und für die endgültige Befreiung noch viele Mühen und Opfer aufbringen, damit Frau und Mann gemeinsam an einer Gesellschaftsreform mitwirken können, in der alle Mitglieder gleichberechtigt sind und den Anforderungen der Zeit gewachsen sind. Besonders in der arabischen Welt müssen Frauen sich mit viel Mut wappnen und diesen Kampf aufnehmen, so lange er auch dauern möge, bis der Tag kommt, an der wir nicht mehr solche Bilder sehen werden wie neulich in Casablanca: Eine halbe Million demonstrierten gegen Reformgesetze, die den Frauen die Möglichkeit eröffnen sollten, sich an Entwicklungsprojekten zu beteiligen, sich von der Vorherrschaft des Mannes und sich von restriktiven Sitten und Gebräuchen zu befreien. An der Gegendemonstration in Rabat für diese neuen Reformgesetze beteiligten sich dagegen nur 100 000 Frauen.

Wir sind davon überzeugt, dass Pioniere und Kämpferinnen wie Issam Abdulhadi es möglich machen, dass dieser ersehnte Tag bald herbeikommen wird.

Frau Issam Abdulhadi, die wir hier herzlich begrüßen, ist vielen bereits bekannt. Wenn wir hier einige Stationen ihres Lebens und Kampfes aufführen, so nur, um zu zeigen , wie eng ihr Leben mit dem Palästinaproblem, dem Aufstand des palästinensischen Volkes, zusammenhängt.

Issam Abdulhadi – Vorsitzende der Generalunion palästinensischer Frauen seit ihrer Gründung in Jerusalem 1965, Mitglied des Palästinensischen Nationalrats und des Zentralrats der PLO – wurde 1928 in Nablus geboren. Ihre Grund- und Gymnasialausbildung erhielt sie in Nablus und Ramallah.
Mit 21 Jahren wurde sie zur Vizepräsidentin des neu gegründeten Arabischen Frauenverein in Nablus gewählt. In dieser Position blieb sie bis zu ihrer Zwangsausweisung durch die israelische Besatzungsmacht im Jahr 1969.

1964 wurde sie Mitglied des Palästinensischen Nationalrats in Jerusalem. In den Sitzungen forderte sie mit anderen Frauen, die Entwicklung der palästinensischen Frau zu unterstützen. Dies veranlasste den Rat zu den folgenden drei wichtigen Beschlüssen, die für die Frauenbewegung von grosser Wichtigkeit waren:

  • Kampf gegen den Analphabetismus
  • Verbesserung des Lebensstandards der palästinensischen Familie
  • Beteiligung der palästinensischen Frau in allen politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten und ihre Gleichstellung mit dem Mann in Pflichten und Rechten mit dem Ziel, die Befreiung Palästinas zu erreichen.

1965 wurde die Generalunion Palästinensischer Frauen in Jerusalem gegründet, Frau Issam Abdulhadi wurde ihre Vorsitzende. Die wichtigsten 2 Punkte der Satzung lauteten:

  • Befreiung Palästinas
  • Vertretung der palästinensischen Frau national und international durch die Generalunion

1974 wurde sie zum Mitglied des Palästinensischen Zentralrats gewählt, wo sie in den ersten vier Jahren die einzige Frau war. Bis heute ist sie dort Mitglied.

In der kollektiven Erinnerung der ersten Frauenrechtlerinnen in Palästina blieb die Frage der Befreiung der Frau eng verknüpft mit der Befreiung des Landes.

Frau Abdulhadi spielte eine führende Rolle im Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht. Sie organisierte zahlreiche Demonstrationen, führte Sitzstreiks durch, verfasste Protestnoten und hielt zahlreiche Reden, in denen sie die Menschen für verschiedene Möglichkeiten des Widerstands zu gewinnen versuchte. Die Israelis beschuldigten sie, Freiheitskämpfer bei sich zu verstecken und den Plan für den Transport und Versteck von Munition organisiert zu haben, was die israelische Besatzungsmacht dazu veranlasste, sie zu verhaften. In politischer Haft war sie zwei Monate Folterungen ausgesetzt, dann wurde sie und ihre Tochter Faiha’, die mit ihr ebenso gefangen gehalten war, am 26.4.1969 aus dem Land zwangsausgewiesen.

Frau Abdulhadi war stets bemüht, den nationalen palästinensischen Befreiungskampf mit dem arabischen und internationalen Befreiungskampf weltweit zu verbinden. Sie tauschte mit anderen arabischen und nichtarabischen Frauengruppen, Kenntnisse und Erfahrungen aus, die in ihrem Land einen ähnlichen Kampf für Freiheit, Gleichberechtigung, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und progressive Entwicklung führten. Für Frau Abdulhadi war klar, dass diese Werte die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung kommender Generationen sind.
Auch nach ihrer Ausweisung 1969 war sie eine unermüdliche Vertreterin und Sprecherin für Palästina. Sie nahm an Dutzenden von arabischen und internationalen Kongressen teil, u.a. in Beirut, Amman, Ägypten, Bagdad, Griechenland, Stockholm, Moskau, Paris, Wien, Brüssel, Bulgarien, Indien und Helsinki.

1981 wurde sie zur Präsidentin der Generalunion arabischer Frauen ernannt, welche eine Dachorganisation für die meisten arabischen Frauenverbände ist. Während ihrer Zeit als Vorsitzende war sie bemüht, die Ziele der einzelnen Frauenverbände durch Zusammenarbeit effektiver zu verwirklichen.

Von 1981 bis 1992 wurde sie zur Vizepräsidentin der Internationalen Demokratischen Frauenunion gewählt.

Zwischen 1983 und 1990 nahm sie an verschiedenen Frauenkongressen der UN teil.

1975 leitete sie die palästinensische Frauendelegation der PLO im Ersten internationalen Frauen-Kongress der UN in Mexiko. In diesem Kongress wurde der Zionismus als rassistische Bewegung verurteilt. Es war das erste Mal, dass von einem internationalen Gremium ein solches Urteil ausgesprochen wurde, in dem der Zionismus auf gleiche Ebene mit Kolonialismus und Rassismus gleichgestellt wurde. Auf dem Kongress wurde das Recht aller Völker auf ein Leben in Würde und auf Selbstbestimmung festgehalten. Ebenso machte man auf diesem Kongress in Mexiko wichtige Entschlüsse für die Gleichberechtigung der Frau, für die Notwendigkeit ihrer Beteiligung an Entwicklung und Frieden. Ein Arbeitsplan wurde zur Umsetzung der Beschlüsse für das Jahr der Frau 1975 aufgestellt.

1988, nach der Unabhängigkeitserklärung, die auf der 19.Sitzung des palästinensischen Nationalrats am 15.11. erklärt wurde, stellte Frau Abdulhadi – stellvertretend für die Generalunion palästinensischer Frauen und aufgrund der Bekämpfung der Diskriminierung von Frauen in dieser Erklärung – folgende Forderungen:

  • Verankerung im palästinensischen Grundgesetz das Gleichberechtigungsprinzip zwischen Männern und Frauen in Rechten und Pflichten.
  • Garantie der politischen und zivilen Rechte der Frau, sowie die Bewahrung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte, ihre juristische Rechtsfähigkeit, Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
  • Streben nach einem im palästinensischen Grundgesetz verankerten allgemeingültigen Familiengesetz, das die Beziehungen in der Familie nach dem demokratischen Prinzip regeln soll und jedem Familienmitglied das gleiche Recht auf Meinungsfreiheit und Beteiligung an Entscheidungen zusprechen soll– dies als Wegbereiter zu einer frei-demokratischen pluralistischen Gesellschaft, in der der Mensch im Zentrum des Interesses steht und Mann und Frau als gleiche Partner betrachtet.

1994 veröffentlichte die Generalunion palästinensischer Frauen gemeinsam mit allen anderen Frauengruppen einen Gesetzentwurf“ Principles of Women’s Rights“, genannt Women’s Charter.
Frau Abdulhadi und ihre Mitstreiterinnen verdienen unsere größte Hochachtung für ihren Kampf um Gleichberechtigung der arabischen Frau, vor allem um ihr unermüdliches Bemühen, diese in einer Verfassung zu verankern.

Frau Abdulhadi hat mit ihrem Lebenswerk ein Zeichen der Hoffnung gesetzt für die demokratische Entwicklung ihres Landes Palästina und für die gleichberechtigte Stellung der Frau in der Gesellschaft. Sie hat mit ihrem Wirken einen wichtigen Beitrag für die Emanzipation der Frau in der arabischen Welt geleistet.

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