Hakam Abdel-Hadi
Obwohl nahezu jeder Palästinenser, der sich für die Literatur interessiert, seine Bewunderung an erster Stelle für den inzwischen in der gesamten arabischen Welt, ja auch in Frankreich und teilweise in anderen europäischen Ländern, bekannten Dichter Mahmoud Darwisch prompt zum Ausdruck bringt, will ich der deutschen Öffentlichkeit den in Nazareth lebende Dichter Taha Muhammad Ali vorstellen, weil er es ebenso verdient, in Deutschland gelesen zu werden.
Die beiden Dichter haben Gemeinsamkeiten: Sie stammen aus Galiläa, ihre Dörfer wurden 1948 von Israel dem Erdboden gleichgemacht, beide sind durch die Tragödie ihres Volkes geprägt und dennoch weltoffen; sie sind mit der Weltliteratur vertraut und schreiben nicht nur für die Palästinenser, sondern für die Leser, wo sie auch leben mögen, denn für sie steht der Mensch und sein Kampf für Emanzipation und Gleichstellung in Vordergrund.
Ihre Biographien gehen aber auch auseinander. Der ältere Ali (67 Jahre) lebt nach wie vor in Galiläa, das Darwisch ( 56) Ende der 50-er Jahre verlassen hatte. Während der Jüngere vor allem in der arabischen Welt ein Dichterstar geworden ist und zeitweilig wichtige Funktionen innerhalb der PLO übernahm, bleibt der andere den politischen Tagesgeschäften fern, ohne dabei freilich unpolitisch zu sein, und außerhalb Palästinas ziemlich unbekannt. Für die progressive israelische Presse ist Taha Muhammad Ali jedoch keine Entdeckung mehr, aber auch für manche amerikanische und britische Zeitschriften.
Leider lerne ich ihn persönlich ziemlich spät kennen, erst im Jahre 1996 auf einer Ausstellung des aus Lod stammenden Malers Ismail Shammout im Kulturzentrum der Stadt Nazareth. Die auf ihn gerichteten Fernsehkameras machen mich auf den Mann aufmerksam, der wie ein pensionierter Boxer aussieht ; seine kräftigen Hände bringen zunächst keinen auf den Gedanken, daß man es mit einem der bedeutenden Dichter der Region zu tun hat. Ich bin erstaunt, als ich ihn in einem Gespräch verwickele, wie gut er sich in der klassischen deutschen Literatur auskennt. Ich erfahre später, daß er sie in englischer Übersetzung gelesen hatte. Er händigt mir drei Gedichtbände aus: „Das Vierte Gedicht“, Haifa 1989; „Du hast Deine Mörder an der Nase herumgeführt“, Haifa 1989 ; „Brand im Friedhof eines Klosters“, Taibi 1992 und eine Kurzgeschichte mit dem Titel „ Macht nichts“.
Seitdem begleiten mich diese Bände auf allen meiner Reisen. Es geht von ihm und seinem Werk eine beständige, ruhige, ja besonnene und kreative Kraft aus, die mir besonders bewußt macht, daß es möglich ist, zu leiden, ohne pessimistisch und depressiv zu sein; ein Gefühl, daß ich nie bei dem stets genervten Darwisch gehabt hatte, der eine endlose Traurigkeit ausstrahlt und bei mir die Frage auslöst, ob er wohl vielleicht doch privat lächeln würde?!
Ich habe Glück und begegne Taha Muhammad Ali einige Wochen nach unserem ersten Treffen auf der Internationalen Konferenz der Palästinensischen Schriftstellerunion , die im März 1996 an der Universität Bier Zeit am Westufer stattfand. Zu meiner Freude sind wir Gäste des gleichen Hotels in Ramalla, aber ein intensives zweier Gespräch ist nicht möglich; dafür sind zu viele Schriftsteller dort. Ich frage Ali, ob ich ihn mit meinem Aufnahmegerät in Nazareth besuchen darf. Er erwiderte, „ aber ja , stellen Sie doch meine Gastfreundschaft auf die Probe“. Einige Monate danach kommt es dazu.
Während unseres langen Gesprächs beeindruckt mich am meisten seine Unfähigkeit zu hassen. In seinem Gedichtband „ Brand im Friedhof eines Klosters“ schreibt er: „Nach unserem Todewird das müde Herzmit seinem letzten Umhang alles umhüllen: unsere Taten,Hoffnungen, Träume, Sehnsüchteund Empfindungen.Als erstes in uns wird der Haß verfaulen…“ Ich führe mit ihm kein klassisches Interview und ziehe es vor, ihn lieber erzählen zu lassen. Ich frage ihn über seine Kindheit, ob er aus einer armen Familie stamme, weil beispielsweise eine seiner Kurzgeschichten sich eindrucksvoll mit einem barfüßigen Kind beschäftigt? „Nein“, sagte er, „ das Einkommen meines Vater hatte immer für das Notwendige gereicht, aber es kommt darauf an, in den Schuhen des Akteurs in einer Geschichte und einem Gedicht zu stapfen. Wenn Du zum Beispiel Shakespeares „Romeo und Julia“ liest, dann könntest Du glauben, daß der Autor nicht älter als 17 Jahre ist, oder wenn Du Dich mit „Hamlet“ befaßt, dann könntest Du vermuten, daß der Schriftsteller ein Wahrsager ist usw.“ Er zitiert in diesem Zusammenhang aus „Madschnun Laila“ ( Der Laila-Narr ), einem Liebesgedicht des ägyptischen Neoklassikers Ahmad Shawqi, in dem er die sagenhafte, unglückliche Liebe zwischen dem Beduinen Qais und seiner Kusine Laila darstellt. „Du glaubst, daß der in Kairo lebende Städter Ibrahim sein ganzes Leben in der Wüste verbracht hätte“, bekräftigt er. Immer wieder fällt der Name Shakespeares, so beispielsweise sein „König Lear“ in diesem Gedicht Alis: „ Weder die Musik, der Ruhm, noch der Reichtum, ja, nicht einmal die Dichtungvermögen mich darüber hinweg zu trösten,daß die Lebensdauer so kurz ist, und daß „King Lear“ schon nachachtzig Seiten zu Ende ist…“ Sicherlich ist es nicht immer so einfach, andere Gedichte von ihm zu interpretieren, denn dafür braucht der Leser vermutlich ein ungewöhnliches Wörterbuch: „ In einem alten Wörterbuch für Träume gibt es Interpretationen für meine Namen und Schriften.Welche Panik überfällt mich, wenn ich michin solchen Wörterbüchern umblättere?!Ich bin ein vor den Schlachthöfen Gen Ostenfliehendes Kamel…“ Selbstverständlich nimmt die Politik in den drei Gedichtbänden von Taha Muhammad Ali einen großen Raum ein, aber wie geht er damit um? Er legt großen Wert darauf, sein Werk nicht von den Tagesereignissen diktieren zu lassen, weil die Wirkung solcher Gedichte durch die nächsten Geschehnisse verpuffen würde. Beispielsweise wurde sein Gedicht „ Abdel-Hadi kämpft gegen eine Supermacht“, das er im Jahre 1973 verfaßte, bisher in mehr als 40 Publikationen veröffentlicht. Als ich ihn darum bitte, es vorzutragen, spricht der alte Mann mit seiner tiefen, bewegenden Stimme:
„Abdel-Hadi kämpft gegen eine Supermacht
In seinem ganzen Lebenhat er niemals gelesen oder geschrieben.in seinem ganzen Leben hat er keinen Baum gefällt,oder eine Kuh geschlachtet,in seinem ganzen Leben hat er niemalsüber die New York Times gesprochen;in ihrer Abwesenheit.In seinem ganzen Leben hat er niemals die Stimme gegen jemanden erhoben,es sei denn mit den Worten:„ Sie sind willkommen…“„ Bei Gott, Sie sind willkommen“
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Und dennoch lebt er eine verlorene Sache.
Seine Aussichten sind hoffnungslos,
sein Recht ist eine Salzprise,
die in einen Ozean gestreut wurde.
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Meine Herren!!
Mein Klient, weiß nichts über seinen Gegner!!
Ich versichere Ihnen,
wenn er die Enterprise-Marines gesehen hätte,
dann hätte er ihnen Spiegeleier und
selbstgemachten Quark angeboten!! Ali richtet seine Worte an die passiven, ja gutmütigen Menschen, die alle Formen der Tyrannei als selbstverständlich hinnehmen. Seine Sprache ist meist einfach; in der arabischen Literatur spricht man von solcher schwer zu erreichenden Leichtigkeit. Die Literatur solle, nach seiner Auffassung, das würdige Leben darstellen, damit es sich lohnt, aufzustehen und etwas dafür zu tun.
Abdel-Hadi, Kassim und Saleh verkörpern in seinen Gedichten einfache Menschen in Palästina. Er erzählt, daß sie ihn inspirieren würden; er wolle ihre Seelen begreifen und nehme sich dabei die Freiheit, sie zu überzeichnen. In seinem Gedicht „ Er hat seine Mörder an der Nase herumgeführt“ steht Kassim für alle palästinensischen Flüchtlinge. 40 Jahre nach der Gründung Israels will er wissen, was aus diesem imaginären SchulKassim geworist?! Er macht es dem Leser nicht einfach, denn das hier in Auszügen übersetzte Gedicht gibt keine endgültige Antwort darauf, was aus seinem „Freund“ Kassim geworden ist, weil Taha Muhammad Ali ihn buchstäblich mit dem Tode spielen läßt: „ Kassim…! sag… Wo bist Du?!…Lebst Du?… Hast Du ein Zelt und Kinder!?Bist Du nach Mekka gepilgert!?Oder haben sie Dich vor den Toren des Lagers getötet? Oder bist Du, Kassim nicht alt geworden, und hättest Dich versteckt,als Du zehn Jahre alt warst!?
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Kassim… Selbst wenn sie es „getan“ haben sollten,
und Dich getötet hätten,
so bin ich doch davon überzeugt,
daß Du Deine Mörder „an der Nase herumgeführt“
sowie Du die Jahre „ausgetrickst“ hast.
Sie haben bestimmt Deine Leiche nicht gefunden.
Nirgends war sie auffindbar:
Nicht in den Flüssen…
Nicht auf der Straße nach Mekka…
Und weil niemand Dich sah,
als Du Deine Leiche verstecktest,
so wird Dich niemals ein Mensch finden…
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Kassim, Dich habe ich stets beneidet,
weil Du in unserem „ Versteckspiel“
so viele einfallsreiche Ideen hattest.
Erinnerst Du Dich?
Wie oft haben wir Kinder es barfuß
abends gespielt?… vor vierzig Jahren. In diesem Gedicht wird nicht unmittelbar angeklagt, dann schließlich hat selbst ein Toter seine Mörder in gewisser Weise „besiegt“. Wie ein ruhender Felsen in einem chaotischen, von Unterdrückung überfluteten Nahen Osten sitzt Taha Muhammad Ali auf dem Balkon seines Hauses in Nazareth und antwortet ganz gelassen auf meine Frage, ob er, dessen Dorf „Saffurye“ zerstört wurde und danach erklärtermaßen als ungleichberechtigter Bürger in Israel lebt, ein Verlierer sei : „keineswegs, ich bin keine Flasche Coca Cola, die man einfach trinkt und in die Müllkippe wirft. Solange ich über ein siebenjähriges Kind schreibe, das gegen die Ungerechtigkeiten voranschreitet, werde ich kein Verlierer sein. Dieses Kind lebt in mir.“