Gedanken zu al-Halladsch

العربية

von Annemarie Schimmel

Was ich getan, tust du auch – hüte dich!
Trägst Auferstehen zu Toten – hüte dich!

So lässt der indo-muslimische Dichter-Philosoph Muhammad Iqbal (1877-1938) Halladsch in seinem visionären persischen Epos Javidnama, „Buch der Ewigkeit“ sprechen und stellt ihn damit als einen schöpferischen Denker hin, der versucht hat, die geistig toten Menschen seiner Zeit wiederzubeleben, das heisst, ihnen wieder einen lebendigen Glauben zu schenken, sie vom taqlid, dem geistlosen Wiederholen ererbter Formeln zu befreien.

Es ist ein interessantes Phänomen, dass Halladsch – kontrovers wie wenige in der islamischen Geistesgeschichte – in den letzten Jahrzehnten bei der Elite der islamischen Völker einen wichtigen Platz innehat. Der Mystiker, der 922 in Bagdad grausam hingerichtet wurde, ist oftmals missverstanden worden; man hat seinen Auspruch „ana’l-haqq“, „Ich bin die Absolute Wahrheit“, d.h. „Gott“, als Ausdruck einer übersteigerten Expansion seines Ich angesehen, hat ihn verdächtigt, an die Einwohnung Gottes im Menschen zu glauben (ittihad, hulul). Manche Zeitgenossen hielten ihn für einen gefährlichen Magier, einen Zauberer, während seine politischen Gegner seine Rolle bei einer geplanten steuerreform missbilligten und die Theologen seine Idee, gewisse Islamische Rituale durch andere, „praktischere“ zu ersetzen (isqat al-fara’id), als Ausdruck seines Unglaubens ansahen – obgleich er in seinem Werk „Kitab at-tawasin“ die schönste frühe Hymne auf den Propheten Muhammad verfasst hat. Doch die grossen Sufis aller Zeiten haben seine absolute Gottesliebe bewundert, und schon in der mittelalterlichen Literatur findet sich ein Zug, der in moderner Zeit noch deutlicher wird: Halladsch wird zum Rebellen gegen die Engstirnigkeit der verknöcherten Theologen, weil er die lebendige Erfahrung des Göttlichen gemacht hat – ähnlich, wie später al-Ghazzali das Lehramt an der Nizamiyya in Bagdad aufgab, weil er fand, seine Kollegen seien zu sehr vertieft in Haarspaltereien gesetzlicher Fragen, besässen aber keinen Funken lebendiger Gotteserfahrung, lebendigen Glaubens.

In einer interessanten Entwicklung erscheint Halladsch in der nachmittelalterlichen Dichtung Irans und des indischen Subkontinents als jemand, der aus unmittelbarer Gotteserfahrung und Liebe die dürre Scholastik ablehnt und deshalb getötet wurde. Aber ist es nicht so, dass ein Mensch, der die Wahrheit erschaut oder gefunden hat, bereit sein muss, auch für sie zu sterben? Der indische Dichter Mirza Asadullah Ghalib (1797-1869) hat in einem berühmten persischen Vers gesagt: Das Geheimnis, das im Herz ist – keine Predigt wird es sein!Auf dem Galgen kannst du’s sagen; aber auf der Kanzel? Nein! Das heisst, der wahre Zeuge der göttlichen Majestät muss zum Märtyrer werden, mit seinem Leben für die höchste Erfahrung, fuer die Wahrheit bezahlen.

In der modernen Urdu- und türkischen Literatur nun wird Halladsch gewisser- massen zum Rebellen gegen das Establishment, und er erscheint auch in der zeitgenössischen arabischen Dichtung als Vertreter der inneren Dimension des Islam, als Kämpfer fuer Gerechtigkeit und Verstehen. Salah Abd as-Sabur hat in seiner Tragödie Halladschs (Ma’sat al-Halladsch) den sozialen Charakter der Botschaft Halladschs zu zeigen gesucht und eine feine Interpretation der Notwendigkeit seines Todes gegeben: er musste sterben, damit seine Anhänger seine Worte „wiederfinden in den Furchen der Felder“, wo sie verborgen sind, um sie dann auf den Wind zu laden, der über den Wogen dahinfährt – was wäre aus seiner Botschaft der geistigen Freiheit geworden, wäre er nicht hingerichtet worden? 

Adonis hat in seinem Frühwerk die Modernität der Sprache Halladschs hervorgehoben, und sowohl er als auch Abdal Wahhab al-Bayyati haben dem mystischen Märtyrer tief empfunden, wenn auch schwer zu entziffernde Totenklagen gewidmet. Und doch scheint mir, dass Iqbals Verständnis des mittelalterlichen Gottesliebenden Kern seines Lebens und Wirkens besser getroffen hat als die meisten Annäherungen; denn er hat Halladsch – der seit Jahrhunderten in der indo-muslimischen Volksdichtung als der grosse Liebende gefeiert wurde – als Reformer erkannt. Es war ja Iqbals Überzeugung, dass die „Welt des Korans“ sich jedem Menschen zu jeder Zeit neu eräffnet und dass der Islam keine verknöcherte und realitätsferne Religion sei, sondern dass die grossen Denker und Mystiker zu tieferen Schichten des Verständnisses vorgestossen seien und dadurch zu Vorbildern auch für den modernen Menschen werden. Für ihn war Halladsch jemand, der die Tiefen der Offenbarung besser verstanden hatte als die hochgelehrten Theologen, die, wie der indo-muslimische Denker spottet, sich nicht in die geistigen Höhen erheben können, weil jeder von ihnen „ein Qarun an arabischen Wörterbüchern“ ist, dass heisst, durch das Gewicht seiner philologisch-juristischen Kenntnisse nicht erhoben, sondern leblos unter den Staub gedrückt wird, so, wie einst Qarun durch die Last seiner Schätze versank. Für Iqbal war Halladsch ein Vorkämpfer des lebendigen Glaubens und als solcher auch ein Modell für den modernen Menschen.

Man mag über diese Interpretation überrascht sein; aber wenn Iqbal mit seinem – wie Louis Massignon einmal sagte – „Nietzscheschen Bild“ Halladschs seine Mitmenschen zum Denken angeregt hat, so ist das eine wichtige Leistung: Die Notwendigkeit der schöpferischen Liebe für eine fruchtbare Interpretation für die Neuzeit wurde ihm in der Gestalt des mittelalterlichen Märtyrer-Mystikers deutlich. 

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