Der Alte und die Tür
An einem schönen Wintertag – die Sonne ging gerade unter – traf ich auf einen grauhaarigen Greis, der mit größter Mühe eine schwere Tür aufdrückte. Er winkte, um mich vorbeizulassen und sagte betont höflich “bitteschön!“. Ich trat ein. Wutschäumend folgte er mir, und sagte spöttisch: „Dankeschön!“
Ich sagte zu ihm: „Ich habe es gesagt. Haben Sie das nicht gehört?“
Er antwortete langsam: „Entschuldigen Sie, bitte! Ich habe das wohl nicht gehört. Aber ich glaube Ihnen.“
Arroganz
Ich nahm an einer Veranstaltung über Integration und die Probleme der Ausländer in Deutschland teil. In meinem Beitrag ging ich auf die Scheinheiligkeit einiger Parteiführer ein, die bei Wahlen, für die Jagd auf Stimmen, die Ausländerfrage ausnutzen. Sie beschäftigen sich mit lächerlich banalen Fragen, wie die Frage des Kopftuchs muslimischer Schülerinnen und Frauen. Und sie ignorieren wichtige Fragen, wie die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit – einschließlich Fragen der Integration – und wie man diese Probleme löst.. Die Diskussion war hitzig und kontrovers.
Ab und zu schweiften meine Blicke zu einer Frau, die in der vorderen Reihe saß. Sie schwatzte unablässig mit ihrer Nachbarin, kicherte , blätterte in einer Zeitschrift und schenkte der Diskussion kaum Beachtung. Plötzlich und ohne Worterteilung stand sie auf, schaute mich scharf an und sagte: „Warum gehst du nicht in deine Heimat zurück?“
In aller Ruhe fragte ich sie: „Und warum sollte ich – als Bürger – nicht bleiben?“
Sie war irritiert, sie wurde unsicher. Ihr Gesicht lief rot an. Es verschlug ihr die Sprache und sie brachte keinen Ton mehr heraus.
Das Schweigen
Ich zog mich in eine Ecke im alten Café mit seinen vielen Glastüren und dem Blick auf die Berliner Akademie der Künste zurück. An den Wänden hingen Fotos von Literaten, Dichtern, Künstlern und Filmstars. Dort saß ich allein, versunken in meine Gedanken, als sie – mit langsamen Schritten, frisch wie eine Blume – hereinkam. Sie setzte sich mir gegenüber. Nur das Schweigen war unser dritter Begleiter. Wir trennten uns, ohne ein Wort zu wechseln. Jeder von uns trug seine Schmerzen und Hoffnungen allein mit sich.
Traurig rezitierte ich in Gedanken ein Gedicht von Ahmed Abdel Muti Hijazi:
Du bist die Schöne
Ich der Greis
Du auf der Suche nach Liebe, wohingegen ich
einer verlorenen Spur hinterher laufe
Wir hätten einander begegnen sollen, als ich jung war
Dann
hätte ich dich wie ein Wahnsinniger geliebt
(und) wir wären gemeinsam fortgegangen
Übelkeit
Als gut aussehender junger Mann kam er nach Berlin und machte hier seinen Studienabschluss. Obwohl in seiner Heimat eine erbarmungslose Diktatur herrschte, beteiligte er sich an keiner politischen Aktion seiner Landsleute. Er trat in keinen der vielen zivilgesellschaftlichen Vereine ein. Seinen Hass richtete er gegen Deutschland und die Deutschen. Sie seien rassistisch und würden die Ausländer hassen. Er aber sei der große Dichter und seriöse Schriftsteller, dem die gebührende Aufmerksamkeit nicht geschenkt wird. In seiner Einbildung ist er einem Universitätsprofessor oder Kulturexperten gleich. Als Endvierziger hat er aber tatsächlich nichts Bewegendes vollbringen können und bezieht, ohne mit der Wimper zu zucken, ohne Skrupel, Schuldgefühl und Bedenken, seine Sozialhilfe. Er leiht sich Geld und zahlt es nicht zurück. Er zieht stets über Andere her und belästigt die Ehefrauen seiner Freunde. Ich habe mich mit ihm getroffen, nachdem sich die Andren von ihm fernhielten. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass er erst mit sich selbst im Reinen sein muss. Da kam ein Mädchen im Alter unserer Kinder vorbei. Schamlos verfolgte er sie mit seinen Blicken. Er sagte dann: „Das ist ein guter Platz für das Abfangen von schönen Frauen.“
Ich verließ ihn schnell, bevor mich die Übelkeit überfiel.
Heuchelei
Plötzlich erschien er in Deutschland Sein Auftritt war allpräsent, in den Printmedien und im Fernsehen. Die historischen Fakten werden ignoriert oder absichtlich verstellt. Er, der vom Koran und vom islamischen Recht keine Ahnung hat, spricht Recht und zitiert dabei den Koran. Er schrieb einen einzigen Roman, von dem gesagt wird, das sei Weltliteratur. Er behauptete, er sei Säkularist und wurde ein Fernsehstar. Seine finanziellen Geschäfte wurden entlarvt. Er bezeichnete den Islam als Faschismus und bat um Polizeischutz.
Kleiner Dichter, großer Dichter
An einem Sommerabend saß ich in dem mit den herrlichen Gemälden geschmückten, eleganten Saal inmitten des Arabisch/Deutsch gemischten Publikums – und lauschte dem großen, arabischen Dichter, der aus seiner neuen Gedichtsammlung las. Während er uns weiter marterte, bemerkte ich, dass sich die Lippen einiger Zuhörer zu einem bedeutungsvollen Lächeln verzogen, und sich die Köpfe nach rechts oder links wendeten, als Zeichen ihrer Missbilligung, Unruhe, oder weil es ihnen peinlich war. Ich hatte das Gefühl, als ob mir ein Alptraum die Kehle abschnürte. Ich dachte: Wenn das Poesie sein soll, dann ist es das Ende der arabischen Sprache. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Gedichte von Salah Abdel Sabour und Salah Ahmed Ibrahim. Ich entspannte, … beinahe wäre mir eine Arterie in meinem Hirn geplatzt.
Paradoxe: Sicherheit und Geborgenheit
Ende der Fünfziger Jahre lebte ich als Student in der „ehemaligen DDR“. Es waren die Zeiten des Kalten Krieges und der Machtkämpfe zwischen West und Ost. Unser einziges Fenster nach Außen waren der Rundfunk und die Presse der regierenden Einheitspartei. Die Ideologie wurde über die Erkenntnis gestellt. In meinen seltenen Blitzbesuchen nach Westberlin – den amerikanischen Sektor passierend – überfiel mich Angst. Ich fühlte mich im Land der Nazis und Imperialisten bedroht. Wenn ich nach Ostberlin zurückkehrte und die Polizei überall in den Straßen und auf den Plätzen sah, kehrte in mir das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zurück. Als ich später nach Westberlin zog und meine alten Freunde in Ostberlin besuchte, war ich immer wieder über die übermäßige Präsenz der Polizei auf den Straßen entsetzt.
Verborgener Wunsch
Der junge Rechtsanwalt und seine Frau, eine junge Ärztin, betraten zum ersten Mal meine Praxis. Die beiden sind erst vor einigen Tagen aus der arabischen Heimat nach Deutschland gekommen. Ihr Aussehen und ihre Kleider verrieten Reichtum und Wohlstand. Nach der Untersuchung bestätigte ich ihnen, dass die Frau in der zwölften Woche schwanger ist. Zur Beobachtung der Entwicklung des Embryos seien weitere Untersuchungen erforderlich. Nach vier Wochen sollte sie sich wieder vorstellen.
Ich war überrascht, als sie schon nach einer Woche bei mir erschienen. Sie betonte, sie möchte eine genauere Untersuchung schon frühzeitig. Ich erwiderte, dass eine genauere Diagnose einer Untersuchung des Fruchtwassers bedarf. Das sei in ihrem Fall nicht angebracht. Ich erklärte ihnen, dass man die Probe durch einen kleinen Eingriff gewinnen kann und dies mit Risiken für die Schwangerschaft verbunden sei. Sie bestand auf ihrer Forderung und begründete sie damit, dass es in ihrer Familie Missgeburten gab. Ich erklärte ihr nochmals, dass sich durch die regelmäßige Beobachtung der Schwangerschaft solche Missbildungen rechtzeitig erkennen lassen. Sie fuhr jedoch mit ihren Erklärungen fort. Sie durchlebe eine psychisch schwierige Zeit, fern der Heimat und ihrer Familie. Sie sprach aufgeregt, unterstützt durch ihre Gesichtszüge und Handbewegungen Ihre Aufregung war gespielt, überzogen.. Ihr Mann verfolgte unsere Unterhaltung schweigend. Die psychischen Argumente täuschten mich. Ich führte die gewünschte Untersuchung durch. Nach einer Woche konnte ich den beiden die gute Nachricht übermitteln, dass sie ein vollkommen gesundes Mädchen erwarten. Daraufhin verließen sie eilig die Praxis.
Die Abtreibung fand in einer als Abtreibungsbörse bekannten Privatklinik in den Niederlanden statt.
Ost und West
An einem Sonntag lief ich, wie immer mit einem Buch unter dem Arm, in Richtung des Sees, der sich unweit meiner Wohnung befindet. Der Himmel war klar und die Sonne schien. Der Frühling hat seine Spuren in der Natur hinterlassen. Mein Spaziergang führte mich auf und ab unter den hohen und dichten Bäumen. Die Kinder bespritzten sich im See gegenseitig mit Wasser und lachen fröhlich dabei. Die Väter lagen auf dem grünen Rasen und beobachteten mit Freude ihre Kinder. Ein junger Mann umarmte liebevoll seine Freundin. Ein alter Mann spielte mit seinem Hund. Nach einer Weile ging ich in einen Nebenweg und setzte mich auf eine Bank neben eine Frau, die ihr Gesicht vertieft in ein Buch steckte.
Höflich und leise begrüßte ich sie, um ihr vertieftes Lesen nicht zu stören. Sie hob ihren Kopf. Ein Lächeln breitete sich über das freundliche Gesicht einer Vierzigjährigen. Damit der Kontakt nicht unterbrochen wird, fragte ich: „Was lesen Sie da?“
Sie klappte das Buch zu und drehte es um. Es war „Faust“, Goethes Meisterwerk.
Ich sagte: „Als ich Oberschüler in Khartum war, habe ich das in arabischer Sprache gelesen, eine Übersetzung aus dem Französischen.“
Sie: „Immer wenn die Zeit es mir erlaubt, nehme ich das Buch wieder in die Hand. Erstaunlich wie manchmal das Verborgene hervortritt und das Rätselhafte, Verschlossene und Schwierige klarer wird.“
Ich: „Früher habe ich das nicht verstanden, vielleicht weil mir die Erfahrung fehlte oder die Übersetzung aus einer dritten Sprache stammte.“
Ich fragte sie, was sie arbeitet.
Sie antwortete: „Ich lehre Geschichte an der Berliner Universität. Und Sie?“
Ich sagte: „Arzt in Berlin,“ und fügte hinzu: „Sie behandeln die Geschichte und ich behandle die Menschen.“
Sie: „Jeder von uns hat mit der Geschichte und mit den Menschen zu tun.“
Ich: „Neben meiner Arbeit interessiere ich mich für die deutsche Literatur.“
Sie: „Eine zweite Sprache zu lernen und eine andere Kultur kennenzulernen sind gut und nützlich.“
Ich: „Ohne Zweifel, wenn wir von der zur Zeit ohne jegliche Vernunft entbrannten Diskussion über die führende deutsche Kultur absehen würden.“
Sie: „Und was ist dabei? Ist das nicht ein normales nationales Gefühl?“
Ich: „Die Fähigkeit der Menschen, unabhängig von deren Kulturen, Identitäten, Sprachen und Loyalitäten, zusammenzuleben, ruft immer noch Befremden in Deutschland hervor, obwohl Ihr Land nach langen Widerständen zu einem Einwanderungsland geworden ist. Zweifellos ist der Stolz auf die Muttersprache berechtigt. Der chauvinistische Fanatismus entfacht aber nationalistische Gefühle, erschwert die Integration und die gegenseitige Befruchtung der Kulturen.“
Sie, nicht ohne Verdruss und das Thema wechselnd: „Euer Naher Osten ist voller Unruhen und Chaos. Ihr erzählt aber von Revolutionen im arabischen Frühling.“
Ich: „Alle Revolutionen beginnen mit Zerstörungen, Unbändigkeit, Irritationen, Zweifel und Fragen, bevor der Weg geebnet wird. Hat nicht Ihr großer marxistischer Philosoph Ernst Bloch in seinem Werk „Das Prinzip Hoffnung“ nach dem Prinzip und der Hoffnung gefragt, nachdem er die Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Zerstörung in Deutschland während der Naziherrschaft gesehen hat? Nachdem er die Lage der Heimat und ihrer Bewohner in den damaligen schwierigen Zeiten betrachtete, fragte er mit folgenden Worten: „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?
Sie: „In dem Buch brachte der Philosoph seine Hoffnung zum Ausdruck, dass der Mensch seine Entfremdung in der Gesellschaft und in der Natur überwindet. Wir suchen in unserer Geschichte und überwinden die Vergangenheit Wie unser großer Dichter Heinrich Heine sagt:
„Der heutige Tag ist
ein Resultat des gestrigen.
Was dieser gewollt hat
müssen wir erforschen,
wenn wir zu wissen wünschen
was jener will.
Aber ihr verherrlicht eure Geschichte. Euch fehlt die kritische Betrachtung.“
Ich: „Das stimmt nicht. Erstens. Wir können unsere jetzigen Probleme überwinden, trotz Hindernissen und äußeren Einmischungen….“
Sie unterbrach mich: „ So sucht ihr immer nach dem leichteren Weg: „Die Verschwörungstheorie“, damit ihr, statt Selbstkritik zu üben, eure Ruhe habt.“
Ich: „Erstens: Von Verschwörungstheorie kann nicht die Rede sein. Es reicht schon, einen Blick zu werfen auf das, was in Irak, Libyen und Syrien geschieht. Zweitens: Wir betrachten unsere Geschichte kritisch. Sie haben sicherlich von Mohammad Arkoun und seinem Buch „Kritik der islamischen Vernunft“ gehört. Er ist Professor für Geschichte des Islamischen Denkens an der Sorbonne-Universität in Paris und war für ein Jahr Gastdozent am Wissenschaftskolleg in Berlin.“
Sie: „Das erinnert mich an das Werk des deutschen Philosophen Immanuel Kant „Kritik der reinen Vernunft“
Ich: „Vielleicht wollte Arkoun in irgendeiner Weise darauf hinweisen. Das Buch betrachtet kritisch nicht nur die religiöse Vernunft, sondern auch die Orientalistik mit all ihren Vor- und Nachteilen. In der gegenwärtig prekären Situation der arabischen Revolutionen bleibt uns die Hoffnung, wie Bloch sagt. Ich wiederhole es und füge den Worten von Heine hinzu: Die Vergangenheit beleuchten, die kriselnde Gegenwart studieren, die Zukunft bauen und eine Brücke zwischen Ost und West schlagen.“
Unsere Unterhaltung erweiterte sich und umfasste viele Themen. Es war bereichernd und interessant. Ich habe ihr gesagt, dass trotz vielversprechender Fortschritte die Übersetzung arabischer Literatur ins Deutsche – beispielsweise im Vergleich zur Übersetzung lateinamerikanischer Literatur – sehr bescheiden ist.
Als die Sonnenstrahlen zu verschwinden begannen, warf sie einen Blick auf ihre Uhr. Sie sagte „oh mein Gott“ und stand auf.
Im Gleichschritt liefen wir nebeneinander und doch in einem gewissen Abstand voneinander.
Sie sagte: „Nun, was unterscheidet uns?“
Ich erwiderte: „Die verschiedenen Kulturen entwickeln sich seit Tausenden von Jahren parallel zueinander. Manchmal ähneln sie sich, solange die menschliche Vernunft eins ist und die Menschen die gleiche menschliche Natur teilen. Die Anerkennung der Gleichheit ist eine wichtige Voraussetzung für die Verständigung und die Verflechtung der Kulturen.“
Sie: „Wenn das Denken über dem banalen Alltäglichen und den künstlich herbeigeführten Reibereien steht, können die Möglichkeiten einer Antwort auf ähnliche Fragen geschaffen werden. Sie sind unser aller Sorge, in der Vergangenheit wie in der Gegenwart, ob in Europa oder im Osten.“
Ich bejahte das und fügte hinzu: „Der Kampf der Gedanken und der vernünftige Dialog zwischen den verschiedenen Meinungen sind an sich eine schöpferische Leistung und führen zur gegenseitigen Achtung und zu Ideenreichtum. Die gestellten Fragen, einzeln wie kollektiv, finden meist ihre Antworten im Dialog mit den Anderen.“
Sie blickte nach vorne, um sich des Weges zu vergewissern und stand dann an einer Kreuzung. Sie schloss unser Gespräch mit einem Zitat von Goethe:
„Wenn nicht das Auge sonnenhaft,
Wie können wir die Sonne erblicken“
Sie gab mir ihr Buch und sagte mir: „Vielleicht lesen Sie das in der Originalsprache“.
Im selben Augenblick gab ich ihr mein Buch “Zeit der Nordwanderung“ von unserem hervorragenden Schriftsteller at-Tayyib Salih, obwohl ich wusste, dass die ins Deutsche übersetzten Arbeiten des Schriftstellers vergriffen sind. Ich habe keine Hoffnung, dieses Buch bald wieder zu beschaffen.
An der Kreuzung trennten sich unsere Wege, sie bog rechts ab, ich links).