Editorial – Heft 16 winter 2014/2015

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Liebe Leser,

wir beginnen das Jahr mit einer umfangreichen Winter-Doppelausgabe.

Im Rahmen der Reinhold-Frank-Gedächtnisvorlesung 2014 hielt Jörg Armbruster, der bis Ende 2012 Korrespondent der ARD für den Nahen und Mittleren Osten war, einen Vortrag in Karlsruhe zum Thema „Demokratie in der arabischen Welt. Welche Chance hat sie?“. Bisher war der Nahe Osten nicht Schwerpunkt dieser Vortragsreihe, die seit dem Jahr 2000 in Erinnerung an den Widerstandskämpfer Reinhold Frank (1896-1945) jedes Jahr im Juli gehalten wird. Doch warum nicht? Es gibt, wie Armbruster feststellt, in ihrem Kampf gegen Ungerechtigkeit Parallelen:
„Reinhold Frank hatte für etwas gekämpft und am Ende sogar sein Leben dafür geopfert, für das sich seit ein paar Jahren auch Menschen in der arabischen Welt einsetzen. Für ein politisches System, das den Bürgern Mitsprache ermöglicht, Respekt und Menschenwürde bietet – außerdem ein besseres Leben mit einer Zukunftsperspektive.“

Armbruster beleuchtet die Hintergründe des Arabischen Frühlings, der in fast allen Ländern in alte undemokratische Machtgebilde zurückzufallen droht, schöpft aber Hoffnung, dass sich auch dort Demokratie entwickeln wird, da das Rad sich nicht mehr zurückdrehen lasse. Die größeren Probleme sieht er nicht in der Religion, sondern in den mangelnden Bildungssystemen und der Korruption.

Der marokkanische Islamwissenschaftler und Publizist Rachid Boutayeb setzt sich in seinem Essay „Eine Kultur der Toleranz, Toleranz der Ambiguität“ mit dem Begriff der „Ambivalenz der Toleranz“ und dem schwierigen Balanceakt zwischen Gleichheit und Differenz, wie sie Rainer Forst geprägt hat, auseinander. „Ein Rassist soll nicht tolerant werden, er soll seinen Rassismus überwinden“ hatte der gesagt. Boutayeb hinterfragt die These, die Thomas Bauer, basierend auf Donald Levine, entwickelt, nach der der Kampf gegen die Doppeldeutigkeit jene einzigartige Entwicklung in Westeuropa bewirkt hätte, die es auf der Welt nirgendwo sonst gibt. Bauer stellt jedoch fest, dass die arabisch-islamische Kultur mit Ambiguität gelassener umgeht und widersprüchliche, koexistierende Standards akzeptiert.

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir außerdem die arabische Übersetzung der politisch und historisch bedeutenden Rede des Islamwissenschaftlers und Publizisten Navid Kermani, die er am 23.05.2014 vor dem Deutschen Bundestag zur Feierstunde „65 Jahre Grundgesetz“ gehalten hat, in der er so ziemlich alle Regeln ignoriert, die bei solchen Anlässen gelten, und doch so genau den Ton getroffen hat. Kermani kritisierte scharf die Asylpolitik Deutschlands:
„Ein wundervoll bündiger Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.“

Gleich zwei Artikel dieser Ausgabe befassen sich mit Averroes (Ibn Rushd) und seiner Haltung gegenüber der Frau, einmal aus der Sicht eines Mannes (Mohamed Mesbahi, Marokko), ein anderes Mal aus der Sicht einer Frau (Nadia Harhash – Palästina).

Abdelhakim Adjhar von der Khalifa University of Science, Technology and Research (KU) in den Vereinigten Arabischen Emiraten wagt sich an eine moderne Interpretation des Koran, die seiner Meinung nach aus dem Text selbst hervorgehen muss. Er legt Wert auf Vernunft als wichtigste Herangehensweise. Wenn man den Text an sich nicht auf Vernunftwegen begreife, bleiben ungelöste Vorstellungen in unseren Köpfen hängen, die frei von Logik und voller Willkür sind.

Die palästinensische Autorin und Sozialberaterin Faiha Abdelhadi, Direktorin der Stiftung „Verfasser von Studien- und Forschungsarbeiten“, palästinensische Koordinatorin des feministischen Netzwerks „1000 Frauen um die Welt“, analysiert die Hintergründe der rückwärtigen Entwicklung der arabischen Frau und benennt die Voraussetzung für eine erfolgreiche Gleichberechtigung.

Der syrische Schriftsteller und Historiker Abdalla Hanna erinnert uns in seinem Beitrag an die humanistische und patriotische Arbeit der syrischen Menschenrechtsaktivistin Razan Zaitouneh und ihre Kommilitonen. Er beleuchtet die Hintergründe ihrer Entführung mit Rückblick auf die syrische Geschichte zur Zeit der Aufklärung im vorletzten Jahrhundert.
In seiner Homage erinnert Hamid Fadlalla an den palästinensischen Dichter Samih al-Qasim, der am 19. August 2014 – als einer der letzten großen Dichter des palästinensischen Widerstands neben Taufiq Ziyad, Ibrahim Touqan, Mouin Bsisu, Mahmoud Darwich – gestorben ist.

Zum Abschluss bringen wir nach bewährter Tradition einen literarischen Beitrag: die Anekdoten „Erlebnisse, Situationen, Begegnungen“ von Hamid Fadlalla.

Hier noch dieser Hinweis: Autoren und Autorinnen sind herzlich willkommen, ihre Beiträge zu schicken oder uns Empfehlungen zu geben.

Viel Spaß beim Lesen!

Dr. Abier Bushnaq
Chefredakteurin

01.02.2015

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