Der Ausländer von Dr. Hamid Fadlalla

1. Unverständnis

Durch das Hauptportal des monumentalen Rathauses Neukölln in Berlin, das die Karl- Marx-Straße dominiert, ging ich hinein. Der Pförtner in seinem Glaskasten hielt mich sofort auf, als Einzigen von allen Besuchern des Hauses, indem er aus der Sprechluke rief: „Wohin?“
„Zum Gesundheitsamt“ ,erwiderte ich.
„Bist du ein Putzmann oder ein Kochgehilfe?“
„Weder noch“, erwiderte ich.
Sein neben ihm sitzender Kollege sagte lächelnd zu dem Pförtner: „Schau, wie er deutsch versteht und sogar einen  richtigen deutschen Satz bilden kann.“ Ich schaute beide kommentarlos an, ging vorbei, ohne einen Gefühlsausbruch zuzulassen und folgte dem langen, breiten Gang im Erdgeschoss. Es überraschte mich, dass entlang der Wände Schränke und große Kisten aufgereiht waren. Alle Zimmernummern waren mit Papierstreifen überklebt und somit unlesbar. Ein etwa 40jähriger elegant mit einem Anzug bekleideter Mann, kam mir den Korridor entgegen. Ich grüßte ihn freundlich und fragte ihn nach der Zimmer-Nr. … Er ließ mich jedoch kaum ausreden und antwortete von oben herab, dass er die Zimmernummer nicht kenne und ging weiter.

Ich nahm an, er sei ein Besucher des Rathauses wie ich. So setzte ich meinen Gang durch diesen langen Flur fort und sah eine Frau, die ich wegen ihres Kopftuches für eine Türkin oder Araberin hielt. Sie stützte ihren müden Körper auf den Griff eines kleinen Putzwagens und hielt mit der anderen Hand einen Besenstiel fest. Mit einem Tuch wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Als ich mit ihr auf gleicher Höhe war, sprach sie mich an und fragte:“ Bist du nicht der Doktor …?“ Bejahend nickte ich ihr zu. Sie erzählte mir, dass ihre Tochter nun schon vier Jahre in meiner Obhut sei.
„Wie geht es ihr?“, fragte ich.
“Gut, und nun hat sie drei hübsche Kinder – das verdankt sie dir!“
„Doch eher ihrem Ehemann“, war meine Erwiderung. Ihre Wangen röteten sich und sie lachte. Ich lenkte ab, um ihre Verlegenheit zu überspielen und fragte sie nach dem Zimmer Nr.12.
Sie sagte: “Ach, das Gesundheitsamt wurde in die vierte Etage verlegt, da man zur Zeit das alte Gebäude saniert.“
 Ich bedankte mich und sie schlug vor, mich nach oben zu begleiten, da sie  ihre Arbeit von dort fortsetzen könne. Sie zeigte zur Treppe und bemerkte: “Der Fahrstuhl ist derzeit außer Betrieb.“ Ich erwiderte: „Gut so, hoch– und herunterlaufen hält den Kreislauf in Schwung“. Lächelnd ergänzte sie: „…und belastet die Knie“
Die Treppe hochlaufend, klagte sie über starke Schmerzen in den Gelenken und im Rücken und erzählte in diesem Zusammenhang, über das mehrmalige Einreichen von Anträgen  auf Frührente, die jedoch immer abgelehnt wurden.
Mit traurigem Unterton erzählte sie weiter, dass sie im Alter von zwanzig Jahren aus der Türkei in diese Stadt gekommen sei und seitdem vierzig Jahre ununterbrochen hier gearbeitet habe. „Noch drei Jahre und du hast das gesetzliche Rentenalter erreicht, das ist nicht mehr lange hin“, erwiderte ich. Mit Tränen in den Augen sagte sie mir: “Wenn ich das Rentenalter erreicht habe, dann habe ich alle Toiletten von Berlin geputzt.“
Auf der vierten Etage angekommen, zeigte sie auf die Tür des Sekretariats. Ich klopfte an und betrat das Vorzimmer. Freundlich lächelnd empfing mich die Sekretärin, die ich schon kannte. Ich erklärte ihr, dass ich einige Dokumente zu beglaubigen hätte.
„Deswegen kommen Sie persönlich hierher?“ sagte sie, überprüfte die Papiere, stempelte sie und gab sie in eine Unterschriftenmappe. Mit dieser unter dem Arm ging sie durch die Verbindungstür in das Geschäftszimmer, um die Unterschrift des Amtsleiters einzuholen.
Kurz danach kehrte sie zurück und meinte: „Er führt gerade ein Gespräch auf seinem Handy  – ich habe ihm die Mappe hingelegt.“
Während ich ihr gegenüber saß, fragte sie mich: „Stimmt es, dass die Geburtenzahlen im vorigen Jahr gestiegen sind?“ „Ja und allem Anschein nach und Schätzungen zufolge werden sie in diesem Jahr sogar noch höher sein.“ Lächelnd kommentierte ich, dass damit  unsere Rente gesichert sei.
“Dank der Ausländerinnen!“, ergänzte sie. Ich hörte ihren klugen und kritischen Kommentaren weiter zu und bemerkte, dass sie von Zeit zu Zeit auf ihre Armbanduhr schaute. Sie sagte: “Er spricht immer noch.“ -„Vielleicht ist es eine komplizierte Angelegenheit?“ bemerkte ich, doch sie erwiderte: „Kompliziert? Hören Sie nicht das laute Lachen? Es ist die Fortsetzung der gestrigen Abendfeier.“
Die Tür öffnete sich und der Amtsleiter trat mit der Mappe in der Hand ein.
Die Sekretärin stand auf und zeigte auf mich: „Dr. …, Leiter der Abteilung für Familienplanung und Schwangerenberatung im  Krankenhaus unseres Stadtbezirkes.“
Er wandte sich mir zu, begrüßte mich mit „Hallo!“, gab der Sekretärin die Mappe zurück und verschwand wieder hinter seiner Tür.
Überrascht schaute die Sekretärin zu mir und sagte: „Haben Sie gesehen, wie er rot geworden ist?“ „Vielleicht kommt das von dem langen Telefonat“, sagte ich und offenbarte ihr nicht, dass er der elegant gekleidete Mann war, der mir auf dem Flur im Erdgeschoss schon einmal begegnet war.

2. Missverständnis


Mein Weg führte mich zufällig neben eine hübsche junge Frau. Auf der anderen Seite der ziemlich breiten Straße bemerkte ich eine weitere Frau, die der Frau neben mir zuwinkte. Mein Blick fixierte die Dame , die immer noch an meiner Seite lief. Diese aber schaute mich an, presste ihre Lippen zusammen, warf mir einen bösen Blick zu und drehte sofort ihr Gesicht zur anderen Seite. Dabei sah sie ihre Bekannte auf der anderen Straßenseite, die ihr zuwinkte und ihren Namen rief.
Bevor meine zufällige Begleiterin die Straße überquerte, drehte sie sich zu mir um und erneut trafen sich unsere Blicke. Dabei winkte sie mir zu und ihre Lippen öffneten sich zu einem Lächeln.

3. Verständnis

Aus meiner Jackentasche holte ich den Brief, notierte mir die Adresse auf einem Zettel. Danach schrieb ich vom Berliner Stadtplan die U-Bahnverbindung und die Straßennamen ab, die mich bis zu dem Ort führen sollten, der weit von meiner Wohnung entfernt lag.
Ich kam aus der U-Bahnstation und wandte mich nach rechts.
Der Himmel war klar, die Sonne strahlte und ein erfrischender Wind wehte durch die Straßen. Tief in meine Gedanken versunken überquerte ich ein paar Straßen, ohne auf die Straßenschilder zu achten.
Nach einer gewissen Zeit schaute ich auf meinen Zettel und mir wurde klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich hielt vor einem Laden, wo zwei Arbeiter die Fassade strichen.
Einer der Beiden bemerkte meine Anwesenheit, stieg von der Leiter, schaute auf meinen Zettel, schlug sich mit der Hand an die Stirn und sagte: “Ach du meine Güte, Sie laufen genau in die entgegengesetzte Richtung.“ Dann schaute er auf seine Uhr und bemerkte: “Wenn Sie zu dem Büro wollen, dann schaffen Sie  das nicht mehr vor Feierabend!“
Als er meine Ratlosigkeit bemerkte, zeigte er auf sein Auto und machte mir das Angebot, mich zu der gesuchten Adresse zu fahren.
Ich dachte zuerst, er meine das wohl nicht ernst, bis er die Malerrolle mit dem langen Stiel auf den Tisch legte. Dann rieb er seine farbverschmierten Hände und wischte sie an der Hose ab.
Mit den Händen am Lenkrad fragte er mich während der Fahrt:  
-„Was machen Sie hier in Berlin?“
-„Ich bin Arzt im Krankenhaus Neukölln.“
-„Arzt und pleite?“
-„Ich hasse die Autostaus, insbesondere nach der Vereinigung der beiden   Stadtteile.“
– „Zuhause reitet ihr auf Kamelen.“
-„Und auf Elefanten“, fügte ich mit etwas Ironie in der Stimme hinzu.
-„Ist ja nur ein Spaß“.
-„Das habe ich auch nicht anders aufgefasst.“

Nach vier Überquerungen bogen wir nach rechts ab und er hielt den Wagen vor drei modernen Hochhäusern auf der anderen Straßenseite an. Dann zeigte er auf die Hausnummer und ich stieg aus. Ich bedankte mich herzlich bei ihm und  sagte: „Auf Wiedersehen!“

„Aber beim nächsten Mal auf dem Rücken eines Elefanten!“, sagte er, winkte mir zu und herzlich lachend fuhr er davon.

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Dr. Hamid Fadlalla ist Arzt und Geschäftsführer der Organisation für Menschenrechte in den arabischen Staaten (OMRAS/D).

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