Laudatio: Ulrike Stehli-Werbeck

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Laudatio zur Verleihung des IBN RUSHD-Preises für Freies Denken an Sonallah Ibrahim (Berlin 26. November 2004)

Dr. Ulrike Stehli-Werbeck, Münster

Sehr verehrter Herr Sonallah Ibrahim!

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Der Ibn Rushd-Preis für Freies Denken wird heute zum sechsten Mal in Berlin verliehen: dieses Jahr an einen der bedeutendsten arabischen Schriftsteller, Sonallah Ibrahim, der sich zeit seines Lebens mutig und kompromißlos sowohl in seinem literarischen Werk wie durch sein Handeln für schonungslose Ehrlichkeit, Meinungsfreiheit und Demokratie in der arabischen Welt eingesetzt hat. Er wurde von einer unabhängigen Jury, die aus fünf namhaften Intellektuellen und Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen arabischen Län­dern bestand, zum Preisträger des Jahres 2004 gewählt. Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, Sie, Sonallah Ibrahim, beglückwünschen und würdigen zu dürfen.

So sehr sich eine Laudatio auf den Preisträger konzentrieren soll, so ist sie doch stets auch ein wenig durch die Sicht des Laudators mitgeprägt. Gestatten Sie mir einige persönliche Worte zu Beginn: Ich hatte das Glück, Sie, Sonallah Ibrahim, aus Interesse an Ihrem Werk gegen Ende der achtziger Jahre bei Literaturveranstaltungen hier in Berlin kennenzulernen. Im Rahmen meiner literaturwissenschaftlichen Forschung habe ich Sie dann wiederholt in Heliopolis in Kairo besucht und interviewt, wo Sie mir mit Geduld und Interesse Rede und Antwort standen und mich auch in ein Seminar sowie bei befreundeten Professoren der Kairo-Universität einführten. Für all diese Begegnungen danke ich Ihnen.

So wird verständlich, wenn ich das Augenmerk besonders gern auf das literarische Werk des Autors richte, das mehr oder weniger eng verflochten ist mit seiner Biographie einerseits und der politischen Geschichte Ägyptens andererseits. 1981 formulierte er selbst als poeto­lo­gi­sches Ziel, er strebe nach einer „Einheit zwischen dem Roman, der Wirklichkeit und dem Autor“. Nun ist es zwar der größte Fehler, den ein Leser begehen kann, wenn er die in Romanen beschriebenen Figuren und Details unbesehen mit dem Autor und dessen Lebens­umständen gleichsetzt. Doch selten gibt es so viele Parallelen zwischen literarischen Figuren und Autorenbiographie, selten hat der Leser so intensiv den Eindruck, Authentisches über den Autor und seine Zeit zu erfahren, wie in Sonallah Ibrahims Romanen. Sie problematisieren entscheidende Phasen und Phänomene in der Entwicklung der ägyp­ti­schen Gesellschaft seit den sechziger Jahren bis heute. Lassen Sie uns daher gemeinsam einen Blick auf einzelne Stationen im Leben des Autors und seines Landes werfen:

Sonallah Ibrahims Biographie steht bis zu einem gewissen Grade exemplarisch für das Leben einer ganzen Reihe arabischer Intellektueller der sogenannten „Sechziger-Generation“, wie man die damaligen Nach­wuchs­schriftsteller nannte, die – eine Generation nach Nagib Mahfuz – in den sechziger Jahren zu schreiben und zu publizieren begannen und allesamt durch die Sozialisation in ihrer Jugend stark politisiert waren. Geboren 1937 in Kairo, zu einer Zeit, da Ägypten zwar nominell unabhängig war, britische Truppen aber noch 20 Jahre lang die Suez­kanalzone besetzen sollten, erlebte er als Jugendlicher – wie viele seiner Generation – die postkoloniale Phase des Aufbruchs, die an die Unabhängigkeit geknüpften Hoffnungen auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit, 1952 die in Ägypten als „Juli-Revolution“ bekannte Ablösung der Monarchie durch den Putsch der Freien Offiziere und 1954 die Machtergreifung Gamal Abd an-Nasirs, mit der eine tiefgreifende politische, ökonomische und soziale Transformation eingeleitet wurde. In jenen Jahren begann Ibrahim, Jura zu studieren, wandte sich jedoch bald dem Journalismus und der Politik zu. Es waren die Jahre des panarabischen Nationalismus und der Politik des „Arabischen Sozialismus“, an der von seiten der Regierung aber keinerlei Kritik geduldet wurde. Aufgrund seiner Mitgliedschaft in einer kommu­ni­stischen Splitterpartei wurde Sonallah Ibrahim mehrmals für kürzere Zeit und schließlich im Zuge von Nassers Kampagne gegen die Linke fünfeinhalb Jahre, von 1959-1964, inhaftiert. Auf diese Zeit der Gefangenschaft geht die Freundschaft zu dem Journalisten Kamal al-Qalash, den Schriftstellern Ra’uf Mus’ad und Abdalhakim Qasim, wie auch zu dem unter Folter gestorbenen Freund Shuhdi Atiyya al-Shafi’i zurück.

Nach seiner Entlassung arbeitete Sonallah Ibrahim zunächst als Journalist: 1967 für die ägyptische Nachrichtenagentur MENA, 1968 -1971 in Ost-Berlin für die Nachrichtenagentur ADN der DDR. Daran schloß sich ein dreijähriger Aufenthalt in Moskau, wo er sich mit dem Genre des Films auseinandersetzte, auch im Rahmen eines Kinematographiestudiums, um sich erst recht für das geschriebene Wort zu entscheiden. 1974 in das Kairo der Sadat-Ära zurückgekehrt, war er noch für einen Verlag tätig, bevor er 1975 den Entschluß faßte, sich als freier Schriftsteller ganz dem Schreiben zu widmen.

Bis heute hat Sonallah Ibrahim acht bedeutende Romane, Kurzgeschichten, zahlreiche ökologische Romane für Jugendliche als Form der Wissensvermittlung und einige engagierte Comics veröffentlicht. In seinem klugen Essay in dem Bildband „Cairo. From Edge to Edge“ (1999) bewies er auf andere Weise seine Fähigkeiten als scharfsinniger und provokanter Analyst politischer und gesellschaftlicher Zusammenhänge, etwa wenn er konstatiert, daß eigentlich der arabische Mann den higab (das Kopftuch) trägt, unfähig, sich dem Verlust seiner dominanten Position und dem schnellen gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Das Buch, in dem Ibrahim seine persönliche Topographie mit allgemeinen Aspekten der Stadt­geschichte verknüpft, ist eine Art bitterer Liebeserklärung an seine Stadt Kairo.

Wenngleich die im Alter von 22-27 in Gefangenschaft verbrachten Jahre mit Folter und Zwangsarbeit eine traumatische Erfahrung bedeuteten, gelingt Sonallah Ibrahim doch auch eine positive Sicht auf jene Zeit, die er einmal als seine „Universität“ bezeichnete: „Von Mitinsassen wie dem berühmten ägyptischen Autor Mahmud Amin al-Alim und anderen Gefährten habe ich die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit, Fortschritt und Liebe zum eigenen Land gelernt.“ In der Haft faßte er den Entschluß, Schriftsteller zu werden. Sein erster, 1966 veröffentlichter Roman Tilka al-ra’iha (Dieser Gestank), der die Erfahrungen der Haft und der ersten Tage danach verarbeitet, setzte Maßstäbe für Sonallah Ibrahims gesamtes weiteres Schaffen, weshalb wir ein wenig bei ihm verweilen wollen:

Ein namenloser Schriftsteller, der mehrere Jahre – allem Anschein nach wegen seines Engagements als Linker – inhaftiert war, wird in Kairo aus der Haft entlassen. Mangels überwachbaren Wohnsitzes muß er noch eine weitere Nacht in der Zelle verbringen, danach unterliegt er allabendlicher Kontrolle durch einen Polizisten und nächtlichem Hausarrest. Seine Schwester bringt ihn am nächsten Tag in ein von ihr gemietetes Zimmer in Heliopolis. In der Folgezeit besucht und empfängt er tagsüber frühere Freunde und Freundinnen, Ver­wandte, politische Genossen und Arbeitskollegen, versucht zu schreiben, raucht oder hängt seinen Gedanken nach. Alle Versuche, bei früheren Beziehungen der Liebe, Freundschaft oder im Beruf anzuknüpfen, scheitern an seinem Zustand der Entfremdung und Isolation, aber auch an seiner kritischen, ablehnenden Haltung gegenüber der Gesellschaft. Nachdem er für seine politischen Ideale gekämpft und Gefangenschaft, Folter und den Tod eines Freundes erlebt hat, trifft er nun auf Repression, Korruption, Lügen, Gleichgültigkeit und restriktive Konventionen. Er beobachtet die Widersprüche zwischen der nasseristischen Propaganda des Arabischen Sozialismus einerseits und Korruption und Konsumhaltung andererseits. Der Roman­titel „Jener Geruch“ oder besser: „Dieser Gestank!“ bezieht sich sowohl auf die Abwässer, die aus der kaputten Kanalisation austreten, wie auf die moralische Zerrüttung der Gesellschaft. Dem versucht der Protagonist durch sein Streben nach physischer und mora­li­scher Reinheit und seinen Glauben an bestimmte Werte zu begegnen. Er leidet aber unter seiner Sprachlosigkeit und an einer Schaffenskrise, die mit der Unfähigkeit der Gesellschaft zu wahrhafter Kommunikation und mit dem Bedeutungsverlust in der Realität korrespon­dieren.

Um die Identitätskrise und Entfremdung der Hauptfigur auszudrücken, verwendet der Roman zwei verschiedene Erzählebenen: auf der Ebene der äußeren Realität teilt der Ich-Erzähler und Protagonist zehn Tage lang seine alltäglichen, banalen Handlungen, Aussprüche und Beob­ach­tungen mit, scheinbar neutral und emotionslos, meist ohne Kommentar oder Bewertung. In diese Ebene werden Erinnerungen an die Gefangenschaft, die Vergangenheit und die Kindheit sowie Reflexionen über Liebe und Ehe, die Ursachen von Leid u.a. eingefügt. Diese zweite Ebene vermittelt einen Ausschnitt aus dem Bewußtsein des Protagonisten, seine Hoffnungen und Ideale, mit denen er sich nach wie vor identifiziert, die er aber nicht mitteilen kann oder will.

In diesem Roman werden radikal und provokativ alle nur denkbaren sexuellen und politi­schen Tabus berührt: So wie der Protagonist in der Gefängnisszene des ersten Tages Aus­nutzung, Gewalt und Homosexualität beobachtet, so werden im Folgenden auch Prostitution, Impotenz, Masturbation und lesbische Liebe gestreift. Erstmals werden Frei­heits­beraubung und Folter zum litera­ri­schen Thema (was Ibrahim in anderen Werken, besonders in seinem Roman Sharaf (Ehre) 1997 wieder aufgriff). Statt propagandistischer Verklärung der Realität soll nun die ganze Wahrheit in all ihren Facetten zur Sprache kommen. Dazu der Autor: „Verlangt die Sache nicht nach ein wenig Häß­lich­keit im Ausdruck, um das Abstoßende zu beschreiben, das dem Totprügeln eines wehrlosen Menschen, dem Ein­führen einer Luftpumpe in den After, und dem Befestigen von Elektrokabeln an seinen Genitalien innewohnt, und all dies, weil er eine abweichende Meinung vertreten oder seine Freiheit oder nationale Identität verteidigt hat? Und warum ist es uns auferlegt, beim Schreiben nur über die Schönheit der Blumen und ihren herrlichen Duft zu sprechen, während die Exkremente die Straße füllen, das verdreckte Kanalisationswasser den Boden bedeckt, und alle den zersetzenden Geruch riechen und darüber klagen?“ Damit nahm dieser 1966 publizierte Roman die Phase grundlegender Analyse und Selbstkritik vorweg, die die arabische Welt in vollem Umfang erst aufgrund des Schocks der militärischen und politischen Niederlage im Junikrieg 1967 gegen Israel erleben sollte.

Dem Streben nach Authentizität und Wahrheit entspricht, daß in diesem Roman auch die Sprache aller beschönigender, verfälschender Bestandteile entkleidet wird. Es kommt zu einer Reinigung durch radikale Ökonomisierung, einer Verknappung und absoluten Präzision des Stils. Dies äußert sich auf der Erzählebene der äußeren Realität in Sätzen, die extrem kurz sind, oft nur Verben und Substantive enthalten, aber fast ganz auf Adjektive, Metaphern oder rhe­torische Figuren verzichten. Dadurch entsteht ein abgehackter, monotoner Stil, der dem Ver­hältnis der Entfremdung zwischen Protagonist und Gesellschaft Ausdruck verleiht. Dage­gen ist die Diktion auf der Ebene der Imagination, die Einblick in Denken und Fühlen der Hauptfigur gibt, vom Satzbau her variationsreich und verwendet alle möglichen rhetorischen Figuren.

Als Tilka al-ra’iha erschien, hatten die Debatten um das Engagement des Literaten ihren Höhepunkt überschritten. Verbreitet waren das literar-ästhetische Konzept des Realismus und insbesondere des allgemein propagierten arabischen ‚sozialistischen’ Realis­mus, dessen Fortschrittsgläubigkeit und Stil von den jungen Autoren der Sechziger-Generation jedoch als Heuchelei und Stagnation empfunden wurde. Indem Tilka al-ra’iha radikal mit den literari­schen Konventionen brach und innovative Erzählstrategien einführte, die den Leser sowohl mit einer schockierenden neuen Sicht der Wirklichkeit wie auch mit einem neuen ästhetischen Konzept konfrontierten, war es als avantgardistisch einzuordnen. Diesem kleinen, höchst provokativen Roman kommt eine zentrale Bedeutung in der arabischen Literaturgeschichte zu: er ist ein kanonischer Text des Paradigmenwechsels vom literarischen Realismus zu einer arabischen „literarischen Moderne“ geworden.

Auch von seiner Publikationsgeschichte her stellte er ein Politikum dar: Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis er 1986 ungekürzt auf Arabisch erscheinen durfte. Man nahm 1966 die Darstellungen von Sexualität als Vorwand, das Buch eines noch unbekannten Autors sofort zu verbieten, um keine Diskussion über Inhaftierung und Folter aufkommen zu lassen, wie Sonallah Ibrahim meint. 1969 und 1971 erschienen stark purgierte Versionen in Kairo und Beirut, doch kursierte das eigentliche Buch als Kopie unter der Hand, wurde rezensiert und gehörte in den frühen siebziger Jahren sogar zum Curriculum des Magisterexamens in arabischer Literatur. Vollständig erschien 1971 nur die englische Übersetzung. Diesen und andere Prozesse von Zensur und Freiheitsberaubung dokumentiert die wichtige Studie von Marina Stagh The Limits of  Freedom of Speech (1993).

Auch in Sonallah Ibrahims weiteren Romanen begegnet häufig die Figur des kritischen Intel­lektuellen, der die gesellschaftlichen, politischen, aber auch psychologischen Ver­hältnisse und Beziehungen mit kritischer Distanz, Verwunderung oder Befremden beobachtet und reflek­tiert und von ihnen in Mitleidenschaft gezogen wird. Dabei muß der Leser immer von neuem dazu bereit sein, sich auf innovative, höchst elaborierte Kompositionstechniken einzulassen: Der 1974 veröffentlichte Roman Najmat Aghustus (Auguststern) etwa vollzieht in drei unter­schiedlich gestalteten Teilen die Struktur des Assuan-Staudamms nach,  über dessen Bau der Autor nach einer Reise 1965 mit zwei Freunden der Haftzeit auch eine Reportage schrieb: Insan al-sadd al-ali (Der Mensch des hohen Staudamms) (1967). Der Roman nun berichtet von dem Widerspruch zwischen dem in den Medien gezeichneten Bild vom Dammbau und der repressiven, menschenverachtenden Realität auf der Baustelle und zieht Parallelen zwi­schen Nasser und dem Pharao Ramsis II., dem Erbauer des Tempels von Abu Simbel, die sich beide mit der Errichtung großer Bauwerke ein Denkmal setzten. Darüberhinaus führt er in Rück­blenden autobiographisch geprägte, ausführlichere Erinnerungen an einen Gefäng­nis­aufenthalt und den namentlich genannten Freund Shuhdi Atiyya al-Shafi’i sowie Zitate aus einem Buch über Michelangelo an. Im Mittelteil des Romans, der mit dem Kernbereich des Staudamms korrespondiert, kommt es zu einer Kondensation aller Bedeutungsebenen, indem all diese Textsorten ohne Absetzung miteinander verflochten werden.

Einer der  berühmtesten Romane ist al-Lajna (Der Prüfungsausschuß) (1981), eine Satire auf die unter Sadat (1970-1981) eingeleitete Infitah-Politik, die Ägypten ab 1974 gegenüber west­lichen Waren und Investitionen öffnete und bald zur Bereicherung einer kleinen Oberschicht, aber zur Verarmung großer Teile der Mittelschicht wie der unteren Schichten führte. Vor einem kafkaesken Tribunal stellt sich ein linker Intellektueller einer Prüfung in drei Phasen, bei der die Rolle multinationaler Konzerne, etwa Coca-Cola, und die negativen Auswirkungen der Sadatschen Wirtschaftspolitik, wie Korruption, Ausbeutung und wachsender amerika­ni­scher Einfluß, deutlich werden. Die Ironie des Romans läßt den Erzähler am Ende sich selbst verzehren anstatt aufzubegehren; doch appelliert dieses Ende an den Leser, die Zusam­men­hänge zu durchschauen und dagegen Position zu beziehen.

Die Verwendung von Ironie und schwarzem Humor steigerte sich in dem sehr erfolgreichen Roman Dhat (Selbst)(1992), der das Leben einer Frau aus der ägyptischen Mittelschicht während der Regierungzeiten der drei Präsidenten Nasser, Sadat und Mubarak porträtiert, mit den sich verschlechternden Lebensbedingungen, dem Verfall öffentlicher Moral und dem Aufkommen von religiösem Fanatismus. Hier wie in anderen Werken bedient Sonallah Ibra­him sich der Intertextualität, indem er – z. T. in beträchtlicher Dichte – Ausschnitte aus Zeitungen und Sachtexten zu Collagen montiert, die die Erzählung ergänzen und wiederum ironisieren. Dadurch wird der Leser mit den absurden zeitgenössischen Verhältnissen und den geistigen Strömungen und Debatten konfrontiert und auf hohem Reflexionsniveau zur Aus­ein­an­dersetzung damit aufgefordert.

Mehrfach wirft der Autor den politischen Entscheidungsträgern der arabischen Welt vor, ame­ri­kanische Politik zu akzeptieren und in ihren eigenen Ländern durchzusetzen, ohne die Interessen der eigenen Bevölkerung genügend zu berücksichtigen. In seinem jüngsten Roman Amrikanli (2003), dessen Titel, eine Neuprägung, als „Amerikanerisch“ übersetzt werden kann, thematisiert er Aspekte der amerikanischen und ägyptischen Geschichte aus der kri­ti­schen Sicht eines ägyptischen Professors für Vergleichende Geschichte an einem amerikanischen College. (Sonallah selbst war 1998 Visiting Professor für moderne arabische Literatur am Middle East Department der Universität Berkeley in Kalifornien.) Indem „amri­kanli“ analog zu dem osmanisch-türkischen Wort „othmanli“ (osmanisch) gebildet ist, zieht der Roman eine Parallele zwischen der früheren osmanischen Herrschaft über Ägypten und dem heutigen Einfluß der USA auf die ägyptische Wirtschaft und Politik – wobei der Romantitel Amrikanli auch als „Amri kana li“ (Meine Sache gehörte mir, ich war einmal mein eigener Herr) gelesen werden kann.

Als Chronist seiner Zeit thematisierte Sonallah Ibrahim auch den libanesischen Bürgerkrieg in Beirut, Beirut (1984) und in Warda (2000) die unterdrückte Revolution im Sultanat Oman in den frühen siebziger Jahren.

Stets bemühte sich Sonallah Ibrahim um die Verwirklichung der Einheit von Wort und Tat. Er verzichtete auf jegliche Anstellung im Staatsdienst, um seine Unabhängigkeit als freier Schriftsteller zu bewahren. Das Grundeinkommen bestritt er stattdessen durch Kino- und Fernsehdrehbücher, ökologische Romane für Jugendliche und Übersetzungen; z.B. übersetzte er die Romane The Enemy von James Drought und Buridans Esel von Günter de Bruyn ins Arabische sowie eine Sammlung von Prosastücken verschiedener westlicher Autoren, die unter dem Titel al-Tajriba al-unthawiyya (Weibliche Erfahrungen) erschienen.

Auch ließ er sich nie durch den staatlichen Kulturapparat vereinnahmen. So viele Ehrungen er  auch erhielt – 1992 den Ghalib-Halasa-Preis des jordanischen Schriftstellerverbandes, 1994 den renommierten Sultan-Uways-Preis der Arabischen Emirate -, so erlaubte er sich, Einladungen oder Preise abzulehnen, wenn der geringste Verdacht bestand, für eine politische Sache instrumentalisiert zu werden, so 1998 den Nagib Machfus-Preis der Amerikanischen Universität in Kairo oder 2003 den (hochdotierten) Preis des ägyptischen Kultusministeriums für den besten arabischen Roman. Der Regierung fehle – so der Autor –  die Glaubwürdigkeit zur Verleihung eines solchen Preises in Anbetracht der Tatsache, daß sie das amerikanische Hegemoniestreben in der Region, die Besetzung des Irak, die israelische Besetzung und Zer­störung in den palästinensischen Autonomiegebieten und Korruption und Ver­schlech­terung des Lebensstandards in Ägypten toleriere.

Allen Nachteilen und Anfeindungen zum Trotz, ist er ein Leben lang seinem Ideal der Suche nach Wahrheit treu geblieben, ein unermüdlicher Aufklärer und Mahner, ein unerschrockenes Gewissen der Nation. Diese unerschrockene Suche nach Wahrheit und Erkenntnis verbindet Sonallah Ibrahim mit Ibn Rushd, wie auch die Eigenschaft, keinerlei Angst vor einer Auseinandersetzung mit dem „Fremden“ bzw. „fremdem Denken“ zu kennen. Der Ibn Rushd-Preis wird heute jemandem verliehen, der durch sein Schreiben und durch sein Handeln Zeichen gesetzt hat, Zeichen gegen jegliche Art von Bevormundung, Lüge, Willkür, Gewalt und Menschenrechtsverletzung. Der Name Sonallah Ibrahim steht für geistige Freiheit und die Würde des Menschen.

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