Eine Art von Ehrlichkeit
Sonallah Ibrahim
Liebe Freunde,
es fehlen mir die richtigen Worte, meine Freude zum Ausdruck zu bringen, die ich über diese Auszeichnung empfinde. Diese Ehrung erhält insbesondere dadurch ihren Wert, dass Ihre Einrichtung von allen staatlichen Organisationen völlig unabhängig ist. Noch dazu trägt sie den Namen „Ibn Rushd“, der nicht nur ein kluger Kopf war, sondern auch zu den ersten gehörte, der dem Wert des freien Denkens und dem Engagement der Intellektuellen große Wichtigkeit einräumte.
Als mich die Nachricht über meine bevorstehende Auszeichnung erreichte, war ich gerade mit dem Verfassen des letzten Abschnitts einer Arbeit beschäftigt. Es ist ein Buch, das autobiographische Züge enthält, inspiriert durch die Aufzeichnungen, die ich vor gut 40 Jahren während meines Aufenthaltes im Gefängnis notiert habe, als ich mich entschlossen hatte, Schriftsteller zu werden.
Damals schrieb ich – im Zeitraum von April 1962 bis April 1964 – auf Zigarettenpapier jene Fragen auf, die mich beschäftigten. Es sind Fragen, die einen Schriftsteller meistens am Anfang seiner Arbeit interessieren und – in der Tat – sein ganzes Leben lang begleiten. Ich schrieb meine Gedankengänge auf, meine Ideen für Romane, die ich schreiben wollte, Auszüge aus Büchern, die ich gelesen und mir notiert hatte, sowie meine Kommentare dazu. Das Schreiben an sich, seine Probleme, die Rolle des Schriftstellers, die literarischen Schulen und die widersprüchlichen Aussagen zu all diesen Dingen nahmen einen großen Raum in diesen Notizblättern ein.
Die Atmosphäre, in der meine Generation und ich aufgewachsen sind, war bis zum Äußersten emotional beladen mit unserer Revolte gegen die Kolonialmacht im Land und gegen die veralteten Konventionen. Die Welle des Sozialismus gab uns die Zuversicht, alle Wünsche der Menschheit nach Freiheit, Gleichheit und Glück sofort erreichen zu können. Wir lasen Gorki, Tschechov, Steinbeck, Erskin Caldwell, Jorge Amado, Brecht, Eluard, Sartre, Malraux, Camus und Thomas Mann. Wir gingen die Theorien des britischen Autors Christopher Caudwell durch, diskutierten und fragten uns, welche Aufgabe die Literatur im Dienste der Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft haben könnte. Caudwell war unser Vorbild, weil er Worte in Taten umgesetzt hatte: Er verlor sein Leben während des spanischen Bürgerkrieges, als er noch keine 30 Jahre alt war.
Mit Spannung verfolgten wir die Werke jener Schriftsteller, die sich mit der faszinierenden Parole „Kunst fürs Leben – L’art pour vie“ verbunden fühlten. Abd ar-Rahman al-Khamisi z.B. hörte auf, schöne, von 1001 Nacht inspirierte Geschichten zu schreiben, um über den Befreiungskampf der Mau-Mau in Kenia in seinem Buch Die blutbefleckten Hemden zu schreiben. Das gleiche veranlasste Yusuf Idris, in einem modernen Stil und mit realistischer Darstellungsweise über Menschen zu schreiben, die liebenswürdig sind, weil sie mittellos und Außenseiter der Gesellschaft sind. Abd ar-Rahman ash-Sharqawi gibt in Die schöne Erde dem greisen Mechaniker, der zugleich Symbol der Arbeiterschicht und der Zukunft ist, die Heldin zur Frau.
Diese Welle war in der ganzen arabischen Welt überwältigend. In berühmt gewordenen Abhandlungen schrieben Mahmoud Amin el Alem und Abd al-Azim Anis Theorien über die Ziele der Literatur und das Verhältnis zwischen Inhalt und Form. Für uns war der Gebildete nach dem Verständnis von Antonio Gramsci ein organischer Intellektueller: Der Schriftsteller ist ein Rebell, seine Waffe ist der Stift anstelle des Schwertes.
Es ist nur natürlich, dass diese Veränderungen sich in meinen Notizen wiederspiegeln. Ich lese Ihnen jetzt einmal vor, was ich im Jahr 1962 geschrieben habe nach den Ankündigungen der weitgreifenden Verstaatlichungen von Präsident Nasser, und die er als „sozialistische Entscheidungen“ bezeichnet hat:
„Die Rolle des Künstlers in Ägypten heute ist nicht, aus rein ästhetischen Gesichtspunkten zu schreiben, was ihm lieb ist. Sie ist auch nicht, sich in theoretischen und philosophischen Fragestellungen zu verlieren, nur um ihnen auf den Grund zu gehen. Auch besteht sie nicht darin, seine individuelle Erfahrung, in der er gefangen ist, neu zu durchleben; dies würde ihn nur noch mehr in die Isolation treiben und ihm das Gefühl geben, verloren und sterblich zu sein. Die Rolle des Künstlers ist auch nicht, die Geschehnisse in der Gesellschaft unparteiisch und oberflächlich zu dokumentieren.
Ein Künstler in Ägypten heute sollte aktiv und wirksam arbeiten, er sollte in die Tiefen der Gesellschaft und in die Tiefen des Individuums vordringen, er sollte den Weg ebnen und ihn ändern, anführen, er sollte leiten und Tag für Tag die Ereignisse mitgestalten, gewappnet mit der Technik des Erzählens, der persönlichen Lebenserfahrung, mit Bewusstsein, Ausdauer und Opferbereitschaft.“
Sollte,… sollte,… sollte,… so hat man damals in den fünfziger und sechziger Jahren gedacht.
Ich war jung, hatte wenig Erfahrung und stand unter dem Einfluss der damals herrschenden Propaganda. Mir war nicht bewusst, dass ich in meiner Meinungsbildung schon ein Gefangener war und dass dies ein Teil der beschriebenen schrecklichen Realität war.
In dieser Zeit schrieb ich auch Folgendes: „Ein großer Schriftsteller zeigt sich in seiner Fähigkeit, seine Nation zu beschreiben.“ Kaum hatte ich dies geschrieben, da setzte ich im November 1963, also eineinhalb Jahre später, folgenden Satz hinzu: „und in seiner Fähigkeit, wie er sich selbst darstellt.“ Dieser Zusatz zeigt, dass sich meine Einstellung gewandelt hatte.
Wie es in solchen Fällen oft ist, war ich eine Weile ratlos. Ich schrieb: „Alle Schulen sind ein immerwährender Versuch, zur Wahrheit zu gelangen und neue Stilformen zu suchen… Es gibt kein Engagement, es gibt nur die Frage nach der wissenschaftlichen Methode. Warum sollte Yusuf Gawhar noch engagierte Literatur schreiben? Oder was sollen wir von Yusuf as-Siba’i halten, der Tausende von Seiten geschrieben hat, in denen er Reden von Präsident Nasser eingearbeitet hat? … Kunst ist gegen die Tagespolitik. Die Texte, die von Tolstoi überlebt haben, sind seine literarischen Schriften. Die pädagogischen Werke, die er verfasst hat, als er gegen die Kunst rebellierte, sind vergessen.“
Mich mussten wohl meine Worte „Kunst ist gegen die Tagespolitik“ selbst beunruhigt haben, denn ich erläuterte näher: „Es hängt ganz vom Künstler selbst ab, ob ihn etwas bewegt oder nicht. Ist Ersteres der Fall, wird er produktiv. Ist Zweites der Fall, wird er nicht produktiv, auch nicht, wenn er einen Salto macht oder sich hinter der Parole „Die Kunst des Kampfes“ versteckt; er wäre dann ein Lügner. Das Wichtigste ist eine aufrichtige Haltung, nicht eine Haltung, die erzwungen oder die aus bestimmten Interessen heraus angenommen wird.“
Ich war schnell erwachsen geworden. Man sagt, das Gefängnis sei eine Schule der Revolutionäre. Ich persönlich bezweifle ja, dass das so ist, aber ich bin sicher, dass das Gefängnis eine wichtige Schule für den Schriftsteller ist. Im Gefängnis wird der Schriftsteller mit verschiedenen Personen und Situationen konfrontiert. Er lernt verschiedene Werke der Literatur kennen und erweitert seinen Horizont durch kontrovers geführte Gespräche und Beobachtungen des menschlichen Verhaltens und den Versuch, ihre Motive zu verstehen.
Die Zeit im Gefängnis ist lang, sehr lang. Sie gibt dem Schriftsteller die Gelegenheit nachzudenken und Fragen zu stellen. Er lernt die menschlichen Schwächen von nahem kennen und wird selbst menschlicher.
In den frühen 60er Jahren begriff man schnell die natürlichen Folgen der Ablehnung des Individualismus in der Sowjetunion. Man gab zu, dass viele der Begriffe keinerlei wissenschaftliche Basis haben und viele Werke unaufrichtig waren, Werke, die die Wirklichkeit verschönerten und sie im Namen der Wahrheit und des Engagements für die Sache verfälschten. Heute ruft der Roman Frühling an der Oder (Wesna na Odere), für den der Autor Kasakewitsch mit dem Stalin-Preis für Literatur ausgezeichnet worden ist und den ich damals vor meiner Inhaftierung mit großer Begeisterung gelesen habe, nur noch Spott und Belustigung hervor. Dasselbe geschah mit der Protagonistin Umm Sayyid aus einem Roman von Yusuf Idris, in dem die Heldin der Impotenz ihres Mannes mit nobler Selbstaufgabe begegnet.
In meinem Tagebuch habe ich mir einige Worte des jungen, rebellischen, sowjetischen Dichters Jewtuschenko notiert. Ich habe sogar Auszüge aus seiner Autobiographie Die Frühe, wie er sie nannte, ins Arabische übersetzt. Er sagte:
„Der Dichter sollte sich schonungslos der Realität ausliefern. Es ist Dichtern nicht erlaubt, zu betrügen… Als Rimbaud Sklavenhändler wurde, verzichtete er auf jegliche literarische Aktivitäten, weil seine Verhaltensweise nicht mehr mit seinen poetischen Idealen im Einklang standen.“
„Unsere Literaturkritiker waren einfallsreich, als sie die Theorie vom „lobpreisenden Helden“ erfanden. Sie sagten, ein Dichter sollte die hohen Tugenden des Menschen lobpreisen. Er sollte seine Taten nicht so darstellen, wie sie sind, sondern wie sie bei einem vollkommenen Menschen sein würden, damit er als Vorbild dienen kann.“
„Mir scheint, dass das Reden von der Natur, den Frauen und dem Geflüster der Seele in einer Zeit, in der die Menschen um mich herum in Elend leben, etwas Unmoralisches ist.“
In jener Zeit habe ich wahrscheinlich in den Worten des österreichischen Marxisten Ernst Fischer Trost empfunden, obwohl sie oftmals widersprüchlich waren. Er erklärte entschieden: „Wir sind nicht bereit, mit einer Kunst und einer Literatur zu verhandeln, die die soziale Wirklichkeit verlassen haben und die Realität mit geheimnisvollen Masken verdunkeln.“ – Und: „Wir tragen den beharrlichen Wunsch in uns, eine Kunstform zu fordern, die entschieden nach der Wahrheit sucht, die Realität aus allen erdenklichen Perspektiven abbildet und ihre Probleme schildert.“ Im gleichen Zuge schränkt er ein: „Der Künstler wählt nur das Wesentliche aus all dem, was sich aus der Realität offenbart.“
An anderer Stelle habe ich den Satz unterstrichen: „Die moralische Kraft entspringt aus der Kenntnis der Wahrheit.“
Der Sturm wehte aus allen Richtungen. Die amerikanischen Geheimdienste mischten im Kulturkampf mit – sie hielten sich hinter Konzernen wie Ford und Rockefeller bedeckt. Im Namen der kulturellen Freiheit gründeten sie Organisationen, von denen sogar einige hier in Berlin entstanden sind. Sie forderten die Trennung von Kultur und Politik. Ihnen verfielen Autoren wie André Malraux, Ignatzio Silone, Howard Fast und Richard Wright. Letzterer verlor beim Versuch, sich zu distanzieren, 1960 unter mysteriösen Umständen sein Leben. Mit ihren englischen Partnern und den Rothschilds gründeten sie Zeitschriften wie Encounter, die von dem vermeintlich hochgeachteten Intellektuellen und überzeugten Agenten Stephen Spender herausgegeben wurde. Eine arabische Ausgabe derselben Zeitschrift erschien unter dem Namen Hiwar (Dialog), von einem weiteren vermeintlich hochgeachteten Intellektuellen namens Tawfiq Sa’igh in Beirut herausgegeben. In ihrer zweiten Ausgabe erklärte die Redaktion von Encounter, die Aufgabe des Intellektuellen sei es, alle Lügen zu entblößen. Aber eigentlich machte sich die Zeitschrift zur Aufgabe, „für die Wahrheit zu lügen“, das jedenfalls haben ihre Redakteure später zugegeben. Es wurden insbesondere Autoren des Absurden und des Surrealismus in ihr Programm aufgenommen wie Ionesco und seinesgleichen, von dem gesagt wird, „er würde die Sinnlosigkeit der modernen menschlichen Existenz in einer Welt, die von Zufällen bestimmt ist, beschreiben.“
Ionesco entging meinen Notizen nicht. Ich hatte zuvor von seinen Worten aufgeschrieben:
„Man sagt, ein Mensch müsse Partei ergreifen, um diesem Zeitalter anzugehören. Diese Haltung aber schränkt den Horizont ein und verzerrt den Kern der Wahrheit.“
„Die soziale Wirklichkeit ist die oberflächlichste aller Wirklichkeiten.“
Diesen Standpunkt vertritt auch Nathalie Sarraute, eine der Symbolfiguren des französischen Nouveau Roman. Sie sagt: „Der Schriftsteller muss sich von der sichtbaren, bekannten, wissenschaftlich ergründeten Realität distanzieren. Er sollte sich vielmehr auf die ihm fremde innere Welt konzentrieren.“
Zudem schrieb ich das auf, was der englische Kritiker Donald Gray über Berthold Brecht gesagt hat. Er behauptete, Brecht habe sich in seinem Buch Kleines Organon für das Theater von seinen Erstlingswerken distanziert und habe sie als politisch-didaktische Werke betrachtet. Theater solle der allgemeinen Unterhaltung dienen…. Der Autor konnte dem Leser dann aber doch nicht den Rest von dem vorenthalten, was Brecht gesagt hatte. Brecht fährt fort: „Wir brauchen Theaterstücke, die vorhandene Ideen instrumentalisieren und neue Ideen selbst entwickeln, die die Welt verändern.“
In einer meiner Notizen hielt ich Hemingways Äußerungen über den Wert der Ehrlichkeit bei der Beschreibung der Wirklichkeit fest. Er sagte diese im Zusammenhang mit seinen Äußerungen über sein Buch Die grünen Hügel Afrikas (Green Hills of Africa). In der Tat beschrieb er in diesem Buch sowie in seinen meistervollen Erzählungen Schnee auf dem Kilimandscharo (The Snows of Kilimanjaro) und Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber (The Short Happy Life of Francis Macomber) ausführlich, was ihm auf seiner Afrikareise begegnet war. Bald jedoch merkte ich, dass in diesen Werken über Afrika nur Platz für das Jagen von Tieren und Frauen eingeräumt war. Die Einheimischen tauchen darin nur auf, wenn sie dem weißen Sahib das Gin-Glas servieren.
Ja, Hemingway war ehrlich, er schrieb getreu das nieder, was er gesehen hatte – das, was er zu sehen imstande war.
Im Februar 1964, kurz bevor ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, notierte ich mir noch eine Äußerung von Nagib Mahfuz: „Das Hauptengagement in der Kunst ist Ehrlichkeit.“
Und bis heute habe ich keine Zweifel, dass ein großer Autor in all seinen literarischen Werken und in seiner Stellungnahme zu gesellschaftlichen Themen immer ehrlich sein muss.
Aber hier stellt sich die Frage: Welche Art von Ehrlichkeit?
Es ist nur natürlich, dass all diese Notizen ihre Spuren im ersten Werk, das ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis verfasst habe, hinterlassen haben. Der nationale Staatsapparat sang das Hohelied auf das Engagement der Schriftsteller im Sinne von „das Wesentliche zu wählen aus dem, was sich aus der Realität offenbart.“ Dieses Hohelied vermochte nicht, meine Zweifel zu beseitigen. Mein erster Roman erschien mit einer zitierten Rede von Dedalus, der Hauptfigur aus James Joyce’s Roman A Portrait of the Artist as a Young Man. Darin sagt er: „Ich bin ein Produkt dieses Geschlechts, ein Produkt dieses Landes, ein Produkt dieses Lebens. Ich werde meine Meinung äußern, so wie ich bin.“
Mit diesem Entschluss erfüllt, fuhr ich zur Baustelle des Hohen Staudamms von Assuan, der mit einer großen Werbekampagne gepriesen wurde. Ägypten befand sich zur Zeit von Präsident Nasser in allen Bereichen inmitten eines mitreißenden Aufschwungs. Meine ersten Eindrücke von dem großen Projekt bewegten sich im Rahmen der vorherrschenden Propaganda. Allmählich aber eignete ich mir eine klarere und tiefere Sicht der Dinge an.
Eine Modernisierung Ägyptens und der arabischen Welt war nicht geduldet. Der erste Versuch, das zu verhindern, erfolgte 1967 durch die israelische Armee. Dem Sieg vom Oktoberkrieg 1973 wurde der Boden des Erfolgs genommen: Sadat saß im Schoß von Carter, wie Carter selbst einmal sagte. Die Chase Manhattan Bank kam nach Kairo, um die nächste Stufe zu organisieren. Die Dollarnoten sammelten sich bündelweise in den Taschen der Öl-Scheichs. Anstatt das Geld für eine umfassende Erneuerung auszugeben, wurde ein Teil davon verschwendet und der Rest bei den Gegnern investiert. Die Intellektuellen – Schriftsteller, Künstler, Professoren und Vertreter anderer Berufsgruppen – bekamen davon nur wenige Krümel ab. Der Erfolg des Einzelnen war nunmehr das einzig übrig gebliebene Engagement.
Nun mehrte sich die Literatur des Rätselhaften und der mystischen Kontemplation, die den Autor vor Verfänglichkeiten bewahrt. Literaturkritiker schrieben, dass von Tolstoj nur sein Buch Krieg und Frieden fortbestehen würde, sein Theaterstück Der lebende Leichnam und seine didaktischen Werke würden in Vergessenheit geraten. Von Kipling würde nur die Dichtung erhalten bleiben, nicht seine Verteidigung der britischen Kolonialherrschaft. Was von Steinbeck fortbestehen würde, sei das Buch Die Früchte des Zorns, nicht die Tatsache, dass er mit einem amerikanischen Militärflugzeug nach Vietnam geflogen war. Von al-Aqqad werde bleiben, was er vor seinen verflochtenen Beziehungen mit der britischen und der amerikanischen Botschaft geschrieben habe, danach sei er zur Symbolfigur für reaktionäre Gedanken in Kultur und Politik geworden. Von Nagib Mahfuz würden jene wunderbaren Romane erhalten bleiben, die den ägyptischen Charakter beschreiben und die Denkmäler in der Literaturgeschichte sind, so wie auf der historischen Ebene die Pyramiden Denkmäler der Geschichte sind. Nicht aber würden seine neutralen Erklärungen und Aufsätze Bestand haben.
Die Szene fand ihren Höhepunkt mit dem Zerfall der Sowjetunion und seinen Folgen. Vertreter des internationalen Kapitalismus in Davos riefen: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch und tretet in unsere Dienste ein!“ Die arabische Presse, die von arabischen Staaten und den Geheimdiensten finanziert wird, unterstützte diese Politik. Ein Sturm der Worte brach los. Man verhöhnte die engagierte Literatur und behauptete, sie sei überholt. In der Literaturszene tauchten plötzlich Autoren mit gepackten Taschen auf, die zu Konferenzen und Festivals reisten – veranstaltet von dubiosen Forschungszentren oder Staaten –, um groß zu sprechen, was sogar allgemeine Begrüßung fand. Einige von ihnen wurden Minister oder Pseudominister. Sie verfochten eine Trennung zwischen Politik und Kultur. Literaturpreise wurden en masse rechts und links verteilt, so dass sich schon Ahmad Abd al-Mu’ti Higazi wunderte, als er den höchsten Staatspreis für Literatur im Jahr 1998 erhielt: „Hat sich das Land geändert oder habe ich mich geändert? Habe ich mich selbst betrogen oder meine Position verlassen und den Platz von al-Aqqad eingenommen? Bin ich alt, weich und nachgiebig geworden? Habe ich mich mit dem Möglichen versöhnt und bin ihnen den halben Weg entgegen gegangen?“
Währenddessen hat die korrupte kollaborierende Elite den Reichtum des Volkes an große internationale Konzerne vergeben. Die einheimische Industrie wurde vernichtet. Angestellte wurden von ihren Arbeitsplätzen vertrieben, Bauern von ihrem Land. Die wenigen Ersparnisse der armen Menschen wurden verbraucht, ihnen wurde die freie Behandlung von Krankheiten und kostenlose Bildung entzogen. Die Kosten für Wasser und Strom stiegen nach der Privatisierung und Neuplanung horrend an. Ebenso war ihnen der Arbeitsmarkt vorenthalten, der nunmehr reserviert war für die Söhne aus der oberen Schicht: Absolventen der amerikanischen Universität und der neuen kanadischen, französischen, deutschen und sogar rumänischen Universitäten im Lande. Allen wurde ermöglicht, mit ausländischen Produkten zu handeln und ihre Verbreitung voranzutreiben. In allen Bereichen machte sich Korruption breit. Ein organisiertes Verfahren zur Vernichtung des einheimischen Wertesystems war im Gang. All dies geschah während des Ausnahmezustands und der Herrschaft eines lebenslangen Alleinherrschers, der sich dem Diktat von Amerika und Israel beugte. So bezeichnet der ägyptische Präsident den Widerstand in Palästina und Irak nun als „Gewalt“, sein Verwaltungsapparat sammelt Informationen über die Widerstandskämpfer und überreicht sie dann ihren Mördern.
Während das palästinensische Volk in aller Öffentlichkeit weiter vernichtet wird, legt die Weltmacht Amerika ihre Hand auf das irakische Öl und schickt sich dazu an, auch die Kontrolle über das Öl im Iran zu übernehmen. Aus dem Islam wird ein Monster gemacht, das die Kapitalisten Europas instrumentalisieren, um die Ausbeutung der eigenen Bürger zu verdecken. Im Namen der Bekämpfung des Antisemitismus werden faschistische Gesetze erlassen… Während all dies geschieht, sprechen sogenannte „liberale“ Intellektuelle von Weisheit, Frieden, Toleranz, Dialog, Nächstenliebe und religiösen Reformen. Nach der Peitsche wurde der Zucker benutzt, die Engagierten strömten zu den ausländischen Geldgeber-Zentralen und glänzten auf den Bildschirmen ihrer Satellitensender. Einer der kollaborierenden Stars der Elite wurde mit der Ausrichtung des 70. Geburtstags von Ahmad Fu’ad Nagm [einem bekannten linken ägyptischen Dichter] betraut. Die Veranstaltung wurde im amerikanischen Fernsehkanal Al-Hurra gezeigt.
Es blieb der hilflosen Bevölkerung nichts anderes übrig, als sich in das rückschrittlichste Gedankengut ihrer sonst so reichen Kultur zu flüchten. Sie zog sich zurück und ließ den Platz frei für die siegreichen Feinde. Doch deren Sieg hielt nicht lange an.
Vor ungefähr zwei Jahren stand [der Literatur-Nobelpreisträger] José Saramago in der belagerten Stadt Ramallah und verurteilte die israelische Besatzung, er verteidigte die Rechte des palästinensischen Volkes. Sa’di Yusuf weigerte sich, seine verwirrten Gefährten zu begleiten, die in die besetzte Stadt Bagdad eilten. Anfang dieses Jahres sagte die junge indische Schriftstellerin Arundhati Roy auf dem Weltsozialforum in Mumbay:
„Arme Länder, die geopolitisch von strategischem Wert für das Imperium sind, einen Absatzmarkt haben, Infrastrukturen, die privatisiert werden können, oder natürliche wertvolle Ressourcen wie Öl, Gold, Diamanten, Kobalt, Kohle besitzen, müssen gehorchen oder werden Ziele militärischer Operationen.“
Sie fuhr fort: „Weiter wissen wir, dass unsere Städte von Marschflugkörpern dem Erdboden gleichgemacht werden, unsere Dörfer mit Stacheldraht umzäunt, US-Soldaten durch unsere Straßen patrouillieren werden (…) Aber solange unsere »Märkte« offen sind, solange Enron, Bechtel, Halliburton, Arthur Andersen freie Hand haben, können unsere Führer – manche von ihnen auch demokratisch gewählt – sorglos die Linien zwischen Demokratie und Faschismus verwischen…… Wer sie kritisiert, wird als Terrorist bezeichnet.“
Die Autorin des Romans „Gott der kleinen Dinge“, der so schön ist wie sie selbst, fragt sich: „Warum verbieten die Zollbehörden Kakao anbauenden Ländern wie der Elfenbeinküste und Ghana das Produzieren von Schokolade? Warum fordern die reichen Länder, die täglich über eine Milliarde Dollar für Agrarzuschüsse ausgeben, dass arme Länder wie Indien alle Agrarsubventionen streichen? Warum müssen die ehemaligen Kolonien jährlich 283 Milliarden Dollar an die Kolonialmächte zahlen, die sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang ausgebeutet haben?“
„Aus diesen Gründen“ – so schließt die schöne indische Autorin ihre Rede – „müssen wir uns als im Kriegszustand befindlich betrachten.“
Auch dies, so scheint mir, ist eine Art von Ehrlichkeit.
Sonallah Ibrahim
Berlin 26.11.04
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