Laudatio: Ibn Rushd Preis 2002

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Azmi Bishara, ein sehr anwesender Abwesender – Laudatio von Prof. Dr. Alexander Flores zur Verleihung des Ibn Rushd Preises für Freies Denken an Dr. Azmi Bishara

Prof. Alexadner Flores

Im israelischen Sprachgebrauch gibt es den Begriff der „anwesenden Abwesenden“. Er meint eine Menschengruppe, die durch sehr reale Vertreibungsvorgänge und durch eine juristische Konstruktion in den ersten Jahren des Staats entstand. Die Abwesenden waren die arabischen Palästinenser, die auf dem Gebiet des Staats Israel bis 1948 gelebt hatten, aber im Verlauf des Kriegs flohen oder vertrieben wurden. Die meisten von ihnen waren und blieben tatsächlich ganz abwesend. Sie befanden sich nach dem Krieg außerhalb Israels, man ließ sie nicht zurückkehren, und ihr Besitz wurde aufgrund von nachträglich zu diesem Zweck geschaffenen Gesetzen vom Staat in Beschlag genommen. Als abwesend wurden aber auch diejenigen definiert, die während des Kriegs ihre Wohnorte verlassen hatten, sich aber nach dem Krieg durchaus noch in Israel befanden. Auch ihnen wurde die Rückkehr in ihre Dörfer nicht gestattet, auch sie wurden enteignet. Das sind eben die „anwesenden Abwesenden“. Sie siedelten sich in Städten und anderen Dörfern an, viele gründeten neue Dörfer, von denen die meisten bis heute nicht als solche von den Behörden anerkannt sind und daher mit noch weitaus größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben als die anderen arabischen Ortschaften in Israel – eines der brennenden Probleme der Araber in Israel bis heute, und eines, an dem Azmi Bishara und seine Partei viel arbeiten.
 
In gewisser Weise sind alle Palästinenser in Israel solche anwesenden Abwesenden. Sie sind da, sie sind israelische Staatsbürger, die Unabhängigkeitserklärung verspricht ihnen Gleichbehandlung. Gleichzeitig verwehren ihnen der betonte Charakter des Staats als jüdischer Staat und die rechtlichen und praktischen Konsequenzen, die daraus folgen, den Status von wirklich gleichberechtigten Angehörigen der israelischen Gesellschaft. Man hat sie auf vielfältige Weise ausgegrenzt und benachteiligt. Und sie wiederum haben sich bemüht, mit dieser Situation so gut es ging fertigzuwerden. Unter den arabischen Politikern in Israel versuchten manche, unter Hintanstellung aller weitergehenden kollektiven Forderungen Verbesserungen im Austausch für Wählerstimmen zu erhalten. Eine zweite Tendenz setzte sich für kollektive Rechte der Araber ein, kritisierte auch die Politik der Regierung und den Zionismus, wandte sich aber nicht grundsätzlich gegen den Charakter Israels als jüdischer Staat und kehrte einen gewissen israelischen Patriotismus hervor. Das war und ist die Position der kommunistischen Partei Israels, die für lange Zeit der bedeutendste politische Akteur unter den Arabern in Israel war. Eine dritte Tendenz war radikaler nationalistisch, betonte die Solidarität mit der PLO und arbeitete auch mit der antizionistischen Linken in Israel zusammen. Diese Tendenz war in den späten 70er Jahren relativ stark und konkurrierte vor allem unter den Studenten mit der KP, bekam aber auch deutliche Warnsignale des Staats, mit der radikalen Orientierung zu weit zu gehen. Diese Kräfte konnten sich darum seinerzeit nicht auf der nationalen Ebene organisieren.
 
Bei aller Ausgrenzung der Palästinenser integrierten sich doch vor allem die nachwachsenden, zunehmend besser ausgebildeten Generationen in gewissem Maß praktisch in die israelische Gesellschaft. Da sie nicht mehr wie die Älteren unter dem lähmenden Einfluss der totalen Niederlage standen, gleichzeitig aber immer noch an deutliche Grenzen der Diskriminierung stießen, tendierten sie zur Radikalisierung. Nach der Besetzung Restpalästinas durch Israel 1967 und mit dem Aufstieg der PLO war diese Radikalisierung auch eine Palästinisierung. Die anwesenden Abwesenden begannen sich zu Wort zu melden. Und hier kommt Azmi Bishara ins Bild. Er beteiligte sich zuerst als Schüler, dann als Student in Haifa und Jerusalem schon führend an der Agitation der späten 70er Jahre. Er gründete und war erster Vorsitzender des Nationalen Komitees der arabischen Oberschüler und beteiligte sich an der Gründung des Nationalen Komitees der arabischen Studenten. Damals war er Mitglied der KP Israels, von der er sich dann während seines Studiums in der DDR trennte. 1980 ging er an die Humboldt-Uni nach Berlin und promovierte dort – mit Auszeichnung – in Philosophie. 1986 kehrte er zurück und wurde schnell bekannt als Vertreter klarer Forderungen für die arabische Gemeinschaft in Israel.
 
Azmi Bishara ist ein ausgesprochener Intellektueller. Er hat eine ungewöhnlich tiefe Einsicht in das Funktionieren der israelischen Gesellschaft und in die Themen, von denen sie bewegt wird. Anders als viele Araber weiß er auch um die Bedeutung des Holocaust für das Bewusstsein vieler Israelis und hat die Araber wiederholt dazu aufgerufen, das zu sehen und nicht unter Berufung auf eigene Leiden abzuwehren. Er hat die Klarheit und den Mut, wichtige Themen zu erkennen und auch dann anzusprechen, wenn es unpopulär ist. Er hat Charisma und die Fähigkeit, Chancen zu ergreifen, wenn sie sich bieten. Das hat ihm ermöglicht, nicht nur die Probleme, die er für wichtig hält, klar anzusprechen und damit auch weites Gehör zu finden, sondern auch um diese Probleme herum eine politische Bewegung aufzubauen, die ihn in die Knesset getragen und ihm so noch weit mehr Gehör verschafft hat.
 
Azmi Bishara ist Wissenschaftler mit großen analytischen Fähigkeiten. Er kann die Ergebnisse seiner Analyse klar vermitteln, er war ein sehr erfolgreicher akademischer Lehrer. Nach seiner Rückkehr von Berlin 1986 ging er als Hochschullehrer für Philosophie und Kulturelle Studien an die Birzeit-Universität in der Westbank und blieb dort bis zu seinem Einzug in die Knesset 1996. Ich habe im selben Department gelehrt, und meine alten Kollegen sagen mir, dass Azmi bei den Studenten äußerst beliebt war, obwohl er generell die schlechtesten Noten gab… Von 1990 bis 1996 war er auch Forschungsdirektor im Jerusalemer Van-Leer-Institut, und Anfang der 90er Jahre beteiligte er sich in Ramallah an der Gründung des palästinensischen Instituts zum Studium der Demokratie „Muwatin“ und nimmt seitdem sehr aktiv an seinen Arbeiten teil. Alles das sind nicht rein akademische Aktivitäten, sondern die eines ausgesprochen engagierten Intellektuellen im klassischen Sinn, wie er heute leider außer Gebrauch kommt. Das wird auch deutlich am Inhalt seiner Arbeiten: Die Themen sind die Zivilgesellschaft, besonders in der arabischen Welt, Religion und Politik, Fragen der Minderheiten, politischer Islam, Islam und Demokratie, und die Palästinafrage in ihren verschiedenen Aspekten. In diesem Zusammenhang griff er immer wieder auch in die akademische Diskussion in Israel ein. Aber nicht nur in Israel: Seine Studie über die Zivilgesellschaft, die Mitte der 90er Jahre gleichzeitig in Beirut und Ramallah erschien, ist in den arabischen Ländern inzwischen ein Standardwerk zum Thema. Nicht zuletzt, und nicht nur, weil wir hier am Ort des Geschehens sind, ist auch seine enge Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftskolleg in Berlin zu erwähnen, mit dem er in seiner Eigenschaft als Direktor im Van-Leer-Institut einige Projekte durchführte und in dem er 1998 die Ernst-Reuter-Vorlesung über „Staat und Religion“ hielt.
 
Azmi Bishara soll heute den Ibn-Rushd-Preis für besonderen Einsatz für das freie Denken und die Demokratie in der arabischen Welt erhalten, und dass er als auf dem Gebiet der Menschenrechte und der Demokratie ausgesprochen engagierter Intellektueller diesen Preis verdient, ist hoffentlich deutlich geworden. Nur am Rand möchte ich erwähnen, dass die Zeitschrift von Bisharas Partei den Namen „Fasl al-maqal“ trägt – sicherlich eine Anspielung auf Ibn Rushds wohl berühmtesten Traktat, „Fasl al-maqal fima baina-l-hikma wa-sh-sharia min al-ittisal“, in dem er seine Auffassung von der Vereinbarkeit der Religion mit dem Vernunftgebrauch darlegt. Es ist aber über die Preiswürdigkeit des Preisträgers noch keineswegs alles gesagt. Was noch erwähnt werden muss, ist sein Engagement in den verschiedenen Aspekten der Palästinafrage – zweifellos ein zentrales Problem der arabischen Welt auch im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie.
 
Azmi Bishara hat theoretisch wie praktisch viele Aspekte des Palästinaproblems angepackt. Sein zentrales Problem ist die Lage der Palästinenser in Israel. Er sieht sie nicht als die Summe der vielfältigen materiell-praktischen Probleme dieser Gemeinschaft (auch damit beschäftigt er sich, wie er es als arabischer Politiker in Israel muss), sondern betont ihren ursächlichen Zusammenhang mit dem Charakter des Staats Israel. Seine zentrale Forderung dabei ist die, Israel solle der Staat aller seiner Bürger werden. Das klingt unschuldig genug, und in der Tat ist es in universalistischer Sichtweise eine legitime, ja unumgängliche Forderung. Wenn man aber weiß, wie nachhaltig die Konzeption Israels als jüdischer Staat in die ganze Struktur des Staats, seine rechtlichen Bestimmungen und viele praktisch-institutionelle Vorkehrungen eingebaut worden ist und wie viele Privilegien das für seine jüdische Bevölkerung beinhaltet, kann man ermessen, auf welche Ablehnung diese Forderung nicht nur beim Establishment, sondern auch beim allergrößten Teil des jüdisch-israelischen Publikums stößt. Das geht an die Substanz, hier wird die zionistische Struktur des Staats Israel berührt, d.h. eben die Tatsache, dass er nicht der Staat seiner Bürger ist, sondern der Staat der Juden, und zwar ausdrücklich auch derjenigen außerhalb Israels. Den jüdischen Charakter Israels in Frage zu stellen rührt also an ein Tabu – anders als die Opposition gegen die Besatzung von Westbank und Gazastreifen. Die Israelis, die sich gegen diese Besatzung stellen, tun das sogar oft, um den jüdischen Charakter Israels zu wahren, demographisch zu wahren, denn das Staatgebiet Israels ohne die besetzten Gebiete hat immerhin eine vier-Fünftel-Mehrheit von Juden.
 
Nun ist ja dieses Problem – Israel als jüdischer Staat und seine nichtjüdischen Bürger als Hauptleidtragende davon – nicht neu. Auch in der Vergangenheit ist es öfter angesprochen worden, aber die, die das taten, hielten sich meist entweder so weit an die vorgegebenen Tabus, dass ihre Opposition kanalisiert werden konnte, oder sie sprachen mit so schriller Stimme, dass sie leicht marginalisiert werden konnten. Im Grunde waren die Araber in Israel selbst mit ihrer benachteiligten Existenz Vorwurf und Anklage. Sie waren aber über weite Strecken stummer Vorwurf. Dieser Vorwurf konnte auf die Dauer nicht stumm bleiben, und er blieb nicht stumm. Die lauteste und klarste Stimme ist hier Azmi Bishara. Aufgrund seiner klaren Analyse und seines Mutes, auch unbequeme Wahrheiten laut auszusprechen, fand er weithin Gehör – in der palästinensischen Gesellschaft, in einem Teil der jüdischen Öffentlichkeit in Israel und nicht zuletzt im westlichen Ausland. Mitte der 90er Jahre tat Bishara dann den Schritt in die Politik – er gründete eine arabische politische Partei in Israel, At-Tajammu al-watani ad-dimuqrati, die demokratisch-nationale Allianz, die das Problem der Araber in Israel als nationales Problem verstand und sich bei seiner Behandlung nicht an die Beschränkungen halten wollte, die sich andere politische Parteien, z.B. die KP, auferlegten. Diese Partei konnte bei den Wahlen von 1996 praktisch aus dem Stand einen Sitz in der Knesset gewinnen – zunächst in einem Arrangement mit der KP, das aber nicht lange hielt. Diesen Sitz nahm Azmi Bishara ein und hatte damit eine Plattform, von der aus er noch wirksamer seine Anliegen vertreten konnte. Wirksamer in zweifacher Hinsicht: als Parlamentarier, der sich, wenn auch in den durch den Charakter des Staats gesetzten engen Grenzen, praktisch für die Belange des arabischen Publikums in Israel einsetzen konnte, mehr noch aber durch die Tatsache, dass er nun in der Öffentlichkeit stärker beachtet wurde: Hier ist ein Araber, der Parlamentsmitglied des jüdischen Staats ist und der eben diesen jüdischen Charakter des Staats grundsätzlicher und konsequenter in Frage stellt als seine arabischen Kollegen. Weit beachtet und gleichzeitig umstritten war seine Kandidatur für das Amt des Ministerpräsidenten bei den Wahlen von 1999. Es konnte natürlich von realen Chancen keine Rede sein, und viele warfen ihm vor, mit seiner Kandidatur die Chancen der für die Araber tolerableren jüdischen Kandidaten – in erster Linie Ehud Barak – zu verringern. Er nutzte aber gerade den Umstand, dass er als Araber keinerlei reale Aussichten hatte, um noch einmal eindringlich auf die Lage der Palästinenser in Israel aufmerksam zu machen, und zog dann rechtzeitig vor der Wahl seine Kandidatur zurück, nachdem zwei der anderen Kandidaten gewisse Zusicherungen im Hinblick auf bessere Vertretung der Araber gemacht hatten.
 
Azmi Bishara ist aber nicht nur prononcierter Vertreter der Belange der Palästinenser in Israel, sondern setzt sich entschieden dafür ein, alle Aspekte der Palästinafrage und damit auch alle drei großen Teile der palästinensischen Bevölkerung: Palästinenser in Israel, Bewohner von Westbank und Gaza und Flüchtlinge, zusammen zu sehen und keinen davon zu vernachlässigen. Besonders seit der Einigung von Oslo hat er stets eindringlich vor einer „Kurdisierung“ des Palästinaproblems gewarnt. Kurdisierung meint Aufspaltung der palästinensischen Bevölkerung in ihre verschiedenen Teile und Ruhigstellung jedes einzelnen Teils, womit dann das Palästinaproblem vom Tisch wäre, ohne doch wirklich als ganzes, als nationales Problem gelöst worden zu sein. Schon in seinem persönlichen Lebensweg hat Bishara eine Menge für die Verklammerung der Araber in Israel mit den Bewohnern der 1967 besetzten Gebiete getan. Dass er eine Stelle an der Universität Birzeit annahm, mag aus einer Notlage geboren sein – der Notlage nämlich, das für arabische Akademiker in Israel selbst kaum angemessene Beschäftigung zu finden ist. Er machte aus dieser Not sofort eine Tugend und mischte sich kräftig in das dortige politische Leben ein, das gerade in den Hochzeiten der (ersten) Intifada äußerst lebhaft war. Azmi Bisharas Beitrag bestand auch darin, dass er die Intifada und die ihr zugrundeliegende Forderung dem israelischen Publikum und der breiteren Öffentlichkeit, z.B. der deutschen, erklärte. Und da die Palästinenser zwar ein sehr unterstützenswertes Anliegen haben, aber viele von ihnen nicht gut in der Lage sind, es einem wenig informierten westlichen Publikum zu erklären, war auch das sehr wichtig; insbesondere war es wichtig, es auf einem hohen intellektuellen Niveau zu tun. Als die Intifada abebbte und die israelisch-palästinensischen Verhandlungen zu einer ersten Einigung führten, gehörte Bishara zu den Kritikern sowohl der Bedingungen der Einigung wie auch der aus ihr hervorgegangenen palästinensischen Behörde unter Yasir Arafat. Er vergaß nicht sein Eintreten für Demokratie und Zivilgesellschaft, das er – z.B. in Muwatin – fortsetzte. Er hielt aber gleichzeitig Kontakt zur Behörde, und sei es auch nur, um ihr die Vorzüge demokratischer Vorgehensweisen und die Notwendigkeit einer klaren Strategie zur Erreichung ihrer Ziele nahezulegen.
 
Gelegentlich wird auf das Spannungsverhältnis hingewiesen, das potentiell zwischen den beiden Wegen zur Lösung bzw. Regelung des Palästinaproblems besteht, die Azmi Bishara angibt: einerseits die Forderung nach einem Israel als Staat aller seiner Bürger, was auf das Programm eines binationalen Staats hinausläuft, andererseits die Forderung nach einem Palästinastaat neben Israel, also eine Zwei-Staaten-Regelung. Die Spannung besteht darin, dass man, wenn man eine binationale Lösung für das ganze Territorium Mandatspalästinas, also unter Einschluss von Westbank und Gazastreifen, ins Auge fasst, offenbar eine Zwei-Staaten-Regelung für nicht – oder nicht mehr – möglich oder nicht wünschbar hält. Nun lässt sich diese Spannung auflösen, indem man sagt: Eine Regelung muss auf der Basis der Gleichheit erfolgen, sei es in dem Nebeneinander zweier gleichberechtigter Staaten oder in gleichen Rechten für Bürger innerhalb eines Staats. Und überdies: Mit einer Zwei-Staaten-Regelung, wie sie Azmi Bishara zweifellos unterstützt, wäre ja das Problem der Araber in Israel nicht gelöst; die Forderung nach einem binationalen Staat Israel in den Grenzen vom 4. Juni 1967 widerspricht der nach einer Zwei-Staaten-Regelung nicht.
 
Azmi Bishara bemüht sich also, stets auf die Zusammengehörigkeit der drei Aspekte des Palästinaproblems hinzuweisen und sie zu festigen. Darüber hinaus pocht er als prononcierter Vertreter arabischer Belange in Israel auf das Recht der arabischen Bewohner Israels, bei aller stärkeren Berücksichtigung in Israel doch auch Araber zu bleiben bzw. wieder stärker zu werden. Und dazu gehört nicht bloß der Kontakt mit den übrigen Palästinensern, sondern auch die Einbettung in die größere arabische Welt. Von der waren die Araber in Israel lange Zeit fast völlig abgeschnitten – eine Ghettosituation nicht nur im Verhältnis zur israelischen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch zur arabischen Welt. Man braucht nur die Erzählungen etwas älterer Leute über die späten 50er oder die frühen 60er Jahre zu hören, als alle Leute bei den Reden von Jamal Abdannasir oder überhaupt bei den Sendungen von „Saut al-Arab“ am Radio hingen, um zu ermessen, wie sehr die Araber in Israel nicht nur politisch, sondern auch kulturell unter dieser Isolierung von der arabischen Welt litten. Mit der Besetzung von 1967 wurde dann – Glück im Unglück – wenigstens ein mittelbarer Kontakt über die Westbank wieder möglich; seit dem Friedensvertrag von 1979 kann man auch Ägypten besuchen, und viele taten das auch, einfach um einmal wieder arabische Luft zu schnuppern, trafen aber dort oft auf Misstrauen, gepaart mit schierer Unkenntnis ihrer Situation in Israel. Auch hier hat Azmi Bishara Breschen geschlagen, und auch hier spielt er eine ungewöhnliche Rolle. Seit langem besucht er ziemlich häufig arabische Länder, was schon in sich außergewöhnlich ist – schließlich ist der Besuch feindlicher Länder durch israelische Bürger in Israel ein Strafrechtstatbestand, und wenn diese Bürger Araber sind, kommt bei solchen Besuchen zusätzlich die ganze hysterische Vorstellung von den Arabern als fünfter Kolonne hervor. Als das feindliche Land schlechthin gilt in Israel Syrien, und gerade dort hat Bishara mehrere Besuche gemacht. Am spektakulärsten war wohl seine Teilnahme an der Gedenkveranstaltung zum einjährigen Todestag von Hafiz al-Asad in Kirdaha im Sommer 2001. Dort machte er in Gegenwart von Bashar al-Asad und Hasan Nasrallah, dem Chef der libanesischen Hizballah, einige Bemerkungen über den notwendigen gemeinsamen arabischen Widerstand gegen israelische Dominanz. Großer Sturm der Entrüstung in Israel! Ein Knessetmitglied sprach von Erschießungskommando, andere von Verrat, der Generalstaatsanwalt leitete ein Verfahren ein, in dessen Verlauf Bisharas Immunität als Abgeordneter aufgehoben wurde und das im übrigen noch nicht beendet ist. Bisharas wenigstens physische Nähe zu Hasan Nasrallah bei der Feierlichkeit in Kirdaha wurde ihm besonders vorgeworfen, denn Hizballah ist in Israel ein ganz rotes Tuch. Nun kann man, wenn man überhaupt an dergleichen Feierlichkeiten teilnimmt, kaum steuern, wem man begegnet, und überdies mag Hizballah uns von seinen Äußerungen und seinem Charakter als fervent islamistischer Organisation her zuwider sein – seinen Aktionen, nämlich militärischem Widerstand gegen eine militärische Besatzung, kann man Legitimität kaum absprechen. Freilich darf man das den meisten Israelis, die den Tod vieler Soldaten und den erzwungenen Rückzug aus dem Libanon als schmerzlich empfanden, nicht erzählen. Auch für eine andere Aktivität in diesem Zusammenhang wurde Bishara angeklagt, nämlich für die Ermöglichung von Besuchen von Palästinensern aus Israel in Syrien, wobei sie Verwandte – zum ersten Mal nach 53 Jahren! – treffen konnten. Auch durch eine solche humanitäre Aktion, die bei den Betroffenen sehr populär war, kann man in Israel offenbar mit dem Strafgesetz in Konflikt kommen.
 
Azmi Bishara hat nicht nur die arabische Welt den Arabern in Israel näher gerückt; er hat auch umgekehrt die Araber in Israel und ihre Lage der arabischen Welt verständlicher gemacht, als sie das vorher waren. Bei seinen Besuchen in arabischen Ländern – Syrien, Jordanien, Ägypten, Emirate – spricht er oft von diesem Thema, in Beirut hat er ein Buch dazu publiziert. In arabischen Medien ist er ausgesprochen präsent und wird weithin wahrgenommen. Die Schwierigkeit seines Kampfs in Israel, der Mut, mit dem er ihn führt und die Prägnanz und analytische Schärfe seiner Äußerungen hat ihm auch beim weiteren arabischen Publikum viel Sympathie eingebracht, obwohl er ihm keineswegs nach dem Mund redet. Er spricht die Schwächen der arabischen Gesellschaft an, er wendet sich scharf gegen die Gewalt und deren Kult, mit denen sich viele über diese Schwächen hinwegzutäuschen suchen, und geht auch sonst dem arabischen Publikum unbequeme Fragen an. Er tut das ohne jeden verschwörungstheoretischen Anflug, ohne den Klageton und auch ohne den Schaum vor dem Mund, die allzu viele Beträge in den arabischen Medien kennzeichnen. Bei aller Unterstützung der gegenwärtigen Intifada kritisiert er doch vieles an ihren Kampfformen, vor allem aber die Abwesenheit einer klaren Strategie. Er spricht sich gegen die Selbstmordattentate aus, und zwar keineswegs zuallererst aus politisch-taktischen Gründen.
 
Azmi Bishara ist ein Ärgernis. Jemand, der so lautstark und penetrant wie er die Sache der Palästinenser in Israel auf der Tagesordnung hält und sie konsequent mit dem Charakter des Staats in Verbindung bringt, wer es wagt, in Syrien öffentlich arabische Unterstützung für den palästinensischen Widerstand einzufordern, muss die politisch und die ideologisch herrschenden Kräfte in Israel gegen sich aufbringen. Aber er beunruhigt und stört auch viele Teile der Linken und des liberalen Spektrums in Israel, sei es, weil er den zionistischen Konsens zu sehr ankratzt, sei es, weil sie nur unter der Bedingung zu einem Modus vivendi bereit sind, dass die Palästinenser sich als liebe und sanfte Menschen erweisen. Azmi Bishara ist kein lieber und sanfter Mensch. Er beschönigt nicht, er nennt die Realitäten beim Namen, und die Realitäten des israelisch-palästinensischen Konflikts in all seinen Dimensionen sind hart. Auch unter den Palästinensern selbst stößt er nicht ausschließlich auf Gegenliebe. Nicht jeder wird gern daran erinnert, wie trügerisch seine Errungenschaften bei der Integration in die israelische Gesellschaft sind, und manche sehen auch den Status quo, an dem sie gern festhalten wollen, durch allzu lautes Ansprechen der Probleme in Frage gestellt. Auch seine scharfe Kritik an den Mängeln der palästinensischen Behörde und der politischen Bewegung in den besetzten Gebieten hat ihm dort nicht nur Freunde gemacht.
 
Azmi Bishara hat sich in vielbeachteten Büchern, wissenschaftlichen Aufsätzen und zahlreichen sonstigen Beiträgen für Demokratisierung und die Ausweitung der Sphäre der Zivilgesellschaft in der arabischen Welt eingesetzt. Da stößt denn vielen, vor allem arabischen Oppositionellen, seine mangelnde Distanz zu arabischen Regierungen auf, die kein gutes Verhältnis zu Demokratie und Zivilgesellschaft haben. Der spektakulärste Tatbestand sind da natürlich seine Beziehungen mit der syrischen Regierung. Ich will das jetzt weder bewerten noch erklären, will nur daran erinnern, dass ein Intellektueller, der sich politisch engagiert, sich fast notwendig in ein Spannungsverhältnis begibt. Ein reiner Intellektueller kann auch seine Prinzipien rein halten (ob das alle Intellektuellen auch tun, ist sehr die Frage). In der Sphäre der Politik kommt man wohl kaum ohne Konzessionen und Kompromisse aus. Das erzeugt ein Spannungsverhältnis, das unvermeidlich ist und das man im Kopf behalten sollte – und sei es nur, um die Kompromisse nicht zu weit zu treiben. Dieses Spannungsverhältnis betrifft übrigens im syrischen Fall wohl am ehesten die Innenpolitik – mit der syrischen Außen- und Regionalpolitik ist Bishara, soweit es aus seinen Äußerungen hervorgeht, durchaus einverstanden.
 
Kann man nach alldem eine Bilanz ziehen? Die Aufgaben, die Azmi Bishara sich gestellt und mit so großer Verve auch tatsächlich angepackt hat, können von ihrer Größe und ihrer Natur her kaum in irgend überblickbarer Zeit bewältigt werden. Er hat an seinem Platz einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass die Sache der Araber in Israel ins Bewusstsein gerufen wurde; er hat das Seine dazu getan, dass das Palästinaproblem in seinen verschiedenen Aspekten nicht kurdisiert, nicht in verschiedene Problembereiche aufgespalten und so unter den Teppich gekehrt werden konnte; er hat die Beziehungen der Palästinenser mit der weiteren arabischen Welt gefestigt und intensiviert; und er hat stets darauf gedrungen, dass man die palästinensische Sache rational analysiert und ein entsprechendes Bild von ihr zeichnet, und zwar sowohl in der Präsentation dieser Sache nach außen wie als Basis einer klaren und durchdachten Strategie für den palästinensischen Kampf selbst. Mit einem Wort: Azmi Bishara ist ein sehr anwesender Abwesender. Die palästinensische Gesellschaft steht vor ungeheuren Aufgaben. Dass man sich jetzt anschickt, den Nahen Osten mit Gewalt umzukrempeln, wird diese Aufgaben nicht lösen und nicht einfacher machen. Darum ist die Vorgehensweise von Azmi Bishara so wichtig. Sein Beispiel sollte Schule machen. Der Ibn-Rushd-Preis ist da nicht nur Anerkennung des Geleisteten, sondern auch Ermutigung an Azmi Bishara und diejenigen, die in seinem Sinn arbeiten, ihr schweres, aber unverzichtbares Werk fortzusetzen.
 
Alexander Flores

Berlin 14. Dezember 2002

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