Der schwarze Engländer am Nil

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Mit Tajjib Salichs „Nordwanderung„
wird ein Klassiker postkolonialer Literatur neu entdeckt

von Hans-Peter Kunisch

Tajjib Salich: Zeit der Nordwanderung. Roman. Aus dem Arabischen von Regina Karachouli. Mit einem Nachwort von Hartmut Fähndrich. Lenos Verlag, Basel 1998. 191 Seiten, 34. Mark

Mustafa Saids Eroberung Europas ist geprägt von einer besonderen Geschwindigkeit. Als erster sudanesischer Stipendiat schafft es der junge Mann nach London, wird mit vierundzwanzig Dozent für Wirtschaftswissenschaften, und so besessen, wie sich Said durch seine Lehrbücher pflügt, so manisch verfolgt er die europäischen Frauen. Auf der Kanzel predigt Said eine „menschliche Wirtschaft„, redet gegen den Kolonialismus, aber seine Wohnung ist das schwülstige Klischee eines orientalischen Zelts. Saids Verführungsstrategie lebt von Weihrauch und Sandelholz, dem Erzählen süßlicher Geschichten vom „Leben am Nil„ und dem Einsatz seiner schwarzen Haut.

Vor zwei Jahren wurde „Zeit der Nordwanderung„, der erste Roman des 1929 geborenen Tajjib Salich, im Sudan verboten. Weil Salich, der seit Jahren in England lebt, in der arabischen Londoner Zeitung al–Hayât auf die deprimierende soziale wie politische Lage in seinem Heimatland aufmerksam gemacht hatte. Offizielle Begründung war hingegen „Pornographie und Verstoß gegen die Prinzipien des Islam„. Das Verbot kam allerdings etwas spät. Mitte der sechziger Jahre, als der Roman erstmals erschien, wurde er unter arabischen Intellektuellen zum Kultbuch, heute gehört er zur Weltliteratur. Lange vor Huntingtons „Clash of Civilisations„ zeigt er einen „Kampf der Kulturen„ und wie dieser sich als Riß durch einige Einzelschicksale zieht.

Gefährlich wird es für Said, als er in London eine gleichwertige Gegnerin trifft: „In meinem ganzen Leben habe ich keine so häßliche Fratze wie deine gesehen. Ich machte den Mund auf, da war sie schon weitergegangen.„ Jean Morris flirtet mit jedem Mann, provoziert Streit, wo sie nur kann. Said heiratet Jean. Der Super–Araber und die Emanzipierte, zwei berufene Provokateure: eine radikal stilisierte Kulturen–Konfrontation. Die Geschichte endet im blutigen Eklat: Jean betrügt Said, vermutlich, bevor er sie auf ihren Wunsch hin ersticht.

Nach sieben Jahren Gefängnis zieht sich Said in ein kleines Dorf am Nil zurück. Dort wird er von Salichs Ich–Erzähler entdeckt: Said hat eine Einheimische geheiratet, sie haben zwei Kinder, er ist ein nützliches Glied der Gemeinschaft geworden, von dessen Vergangenheit keiner weiß. Nur weil er im Suff ein englisches Kriegsheimkehrergedicht zitiert, kommt ihm der Ich–Erzähler auf die Spur. Um nicht verraten zu werden, erzählt ihm Said die ganze Geschichte.

Salichs Roman ist vor dreißig Jahren erschienen. Aber es ist schon erstaunlich, wie frisch die „zeit der Nordwanderung„ auch bei reichlich verspäteter Ankunft im deutschen Literaturbetrieb immer noch wirkt. Natürlich, weil das Thema des Bruchs zwischen den Kulturen, trotz gern beschworener und beklagter Globalisierung, paradoxerweise nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Aber auch, weil das Buch mit souveräner Freiheit komponiert ist. Essayistische Passagen, „mündliche„ Dorferzählung, innerer Monolog erweitern die Perspektive weit über das geradlinig erzählte exzentrische Leben Saids hinaus, der nur anfangs Hauptfigur ist. Schon kurz nach der Preisgabe seiner Vita ist er im Dorf nicht mehr zu sehen. Es wird vermutet, Said sei im Nilhochwasser ertrunken. Oder hat er Selbstmord begangen? Der schillernde Ex–Ökonom wird zur geheimnisumwitterten Variable, um die herum Salich die Geschichten seiner Figuren gruppiert.

Das faszinierende Nebeneinander von „Europa„ und „Afrika„, das sich inhaltlich und formal, in ganz verschiedenen Erzähltempi manifestiert, macht den Roman auch zur Probe auf die Offenheit der eigenen Wahrnehmung. Schon der Sudan selbst, als schwarzafrikanische arabische ehemalige Kolonie, widersetzt sich vorschneller Zuordnung. Ein Gespräch der Dorf–Honoratioren steht bei Salich neben Londoner Erzählungen und der „unarabischen„ Jugend des sippenlosen Halbwaisen Said. Auch seine Mutter war für ihn „wie eine Fremde (…) Mich beeindruckte nichts. Ich weinte nicht, wenn ich geschlagen wurde, ich freute mich nicht, wenn mich der Lehrer vor der Klasse lobte (…). Ich war wie ein Gummiball; du wirfst ihn ins Wasser, und er wird nicht durchnäßt; du wirfst ihn zu Boden und er springt wieder hoch.„

„Existentialistisch? Autistisch? Selbststilisierend? Alle drei`? Der den Kult–Status stiftende Identifikationseffekt des Buchs hat kaum zuletzt mit den verschiedenen Lebensmustern zu tun, die Salich ohne eindeutige Wertung nebeneinander stellt: jenes des „schwarzen Engländers„ Mustafa Said, der gescheitert ist in seiner Eroberung Europas, der sich schon vor seinem Tod zum Verschwinden im Leben entschlossen hat. Der seine europäische Vergangenheit nur noch im geheimgehaltenen Heiligtum eines englischen living rooms pflegt, welcher, im kleinen Dorf am Nil, von Platon über Kolonialismuskritik bis Thomas Mann und Wittgenstein um einen Kamin herum Saids Erinnerung bewahrt.

Das üblichere Lebensmuster des Ich–Erzählers umgibt die verschiedenen anderen Geschichten mit einer Rahmenhandlung. Ebenfalls aus Europa zurückgekehrt, ist er anfangs zu harmonisierender Wiedereingliederung bereit. Er trägt bei zum trügerisch–idyllischen Beginn des Romans. Aber der Spiegel von Saids Lebensgeschichte konfrontiert ihn mit dem eigenen Tun. Er bleibt ein nachdenklicher, unentschlossener Mittler zwischen den Kulturen, dessen Problematik immer deutlicher in den Vordergrund rückt. Wie der Erzähler in Conrads „Heart of Darkness„ lebt er einem anderen Schicksal hinterher. Die wunderbar gelungene Schlußszene läßt offen, ob er Said auch in den Nil folgen wird.

Fast alle Themen der heutigen Auseinandersetzung um postkoloniale Existenz in Afrika haben ihre Spuren schon in diesem erstaunlichen, 1966 erstmals veröffentlichten Roman hinterlassen: die Folgen der Bildungs(r)evolution, das neo–koloniale Verhalten der neuen, im Westen ausgebildeten Elite im eigenen Land; das Selbstbestimmungsrecht von Individuen und Kulturen; die soziale Stellung der Frauen; selbst das Klitoris–Beschneidungsritual wird diskutiert.

Tötet den Lustgreis

Und alle angerissenen Geschichten treiben geschickt miteinander verknüpft auf ein Massaker zu. Als einer der Alten darauf beharrt, die junge Witwe Saids zu heiraten, diese aber auf ihrer Unabhängigkeit besteht, wird sie vom Dorf zur Heirat gezwungen. Der Ich–Erzähler erkennt seine Liebe zu ihr, wie immer viel zu spät. Nach einem Vergewaltigungsversuch tötet die Frau den Lustgreis, zerstückelt sein Geschlecht, bevor sie sich selber ersticht. Viel eindrucksvoller als Saids etwas strapaziös auf Melodram getrimmte Mordgeschichte, verweist diese Tat auf soziale Realität. Ein „Kampf der Kulturen„ wütet verdeckt auch innerhalb des afrikanischen Dorfs. Ohne zu moralisieren, treibt Salich sein von scharfen Konflikten und weichen Übergängen bestimmtes Erzählmodell bis in eine keineswegs kathartische Katastrophe.

Andere arabische Kulturwanderungs–Texte, die für ihre deutschen Titel nichts können, wie „Ein Muslim entdeckt Europa„ von Rifâa al–Tahtâwi, ein Reisebericht aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert oder Taha Hussains Autobiographie „Weltbürger zwischen Kairo und Paris„, malen ein mehr dokumentarisches, gegen Salich fast nett anmutendes Bild der Kulturunterschiede. Falsch wäre es aber auch, „Zeit der Nordwanderung„ als extremistischen Solitär darzustellen. Die französisch geschriebenen Bücher der Maghrebiner Khair–Eddine („Der Ausgräber„, 1973) und Boudjedra („Topographie„, 1975) – vor allem letzterer ist deutlicher an avantgardistischen Mustern orientiert – verdienen genauso viel Aufmerksamkeit.

Aber vielleicht ist es gerade Salichs eigenwillige Mischung experimenteller und traditioneller Erzählmomente, die diesen schmalen und von Kapitel zu Kapitel immer weitläufigeren Roman, in dem neben Joseph Conrad oft auch „Othello„ verwiesen wird, auf überraschende Weise in den Bereich eines „shakespearenahen„, offenen Schreibens rückt; das, bei aller Differenz der Kulturen, die gängigen hiesigen Debatten um „altes„und „neues„ Erzählen etwas verstaubt aussehen läßt.

    Dieser Artikel erschien erstmals in der Süddeutschen Zeitung Nr. 139 vom 20.06./21.06.98. 
    Er wurde für uns mit Genehmigung des Autors von Hamid Fadlalla und Amir Hamad Nasir ins 
    Arabische übersetzt.
 

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