Abd ar-Rahman Munif: Ein Blick durch sein Werk

Bashar Humeid

1. Einleitung 

Seit Mitte der siebziger Jahre ist Abd ar-Rahman Munif eine fest etablierte Figur in der arabischen Literaturszene. 

Abd ar-Rahman Munif wurde 1933 in Amman von einer irakischen Mutter und einem saudiarabischen Vater geboren. Nach seinem Schulabschluss reiste er nach Bagdad, um Jura zu studieren. Als politisch engagierter Student unterhielt er Beziehungen zur Baath Partei. 1955 wurde er zusammen mit anderen Studenten aus politischen Gründen aus dem Irak ausgewiesen. Er setzte sein Studium an der Universität Kairo fort. 1958 reiste er nach Jugoslawien und promovierte an der Universität Belgrad, wo er 1961 seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Ölwirtschaft erwarb. Er engagierte sich wieder aktiv in der Politik. Nach dem Kongress von Hims 1963 stieg er jedoch wieder aus der Parteimitgliedschaft raus.1 Bis 1973 arbeitete er in einer Erdölfirma in Syrien. Danach reiste er in den Libanon, wo er als Redakteur für die Zeitschrift al-Balag wirkte. In dieser Zeit schrieb er seinen ersten Roman al-Aschjar wa gtial marzuq (Bäume und die Ermordung Marzuqs). 1975 wurde er Chefredakteur der irakischen Fachzeitschrift an-Naft wa t-tanmiya „Öl und Entwicklung“ und arbeitete als Wirtschaftsexperte für die OPEC. Zwischen 1981 und 1986 lebte er in Frankreich, danach zog er mit seiner Familie nach Syrien. 

Seit 1981 widmet sich Abd ar-Rahman Munif ausschließlich der Literatur. Nach Beendigung seines mehrbändigen Werkes Mudun al milh entzog ihm die saudiarabische Regierung 1989 die saudische Staatsangehörigkeit.2

Bis jetzt sind von Munif mehr als zwölf Romane, Biographien und Städte-Chronologien3 erschienen. Östlich des Mittelmeers, 4 ein Roman über die Folgen politischer Repression,hat ihn international bekannt gemacht. Sein Hauptwerk jedoch ist die PentalogieMudun al-milh (Die Salzstädte), die aus fünf Romanen besteht, beginnend mit dem Roman at-Tih 5 (Weglose Wildnis). 

Das Ziel dieses Beitrags ist es, Munifs Ideen vorzustellen und einen groben Überblick über seine Werke zu verschaffen.

2. Der geschichtliche Hintergrund zu Munifs Werken

2.1.  Die Region vor der Erdölentdeckung
 

Die die jüngere historische Entwicklung Saudi-Arabiens war von den Wahhabiten und Al Saud geprägt worden. Die Wahhabiten sind Anhänger einer islamischen Reformbewegung, die in Anlehnung an Ibn Taimiyya zu der „ursprünglichen einfachen Form des Islams“ zurückkehren wollten. Ihr Gründer und Führer, Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-1792), gewann den Stammesscheich Ibn Saud für seine Lehren. Die Verbindung des lokalen Herrscherhauses der Al Saud mit dem islamischen Reformer Ibn Abd al-Wahhab erwies sich als folgereich. In religiös motivierten Eroberungsfeldzügen wurden lokale Fürsten wie die Haschimiten in Mekka und Medina und Al Raschid in Hail aus ihren Herrschaftsgebieten vertrieben und verdrängt. 1934 hatte Abd al-Aziz ibn al-Saud das Königreich ungefähr in den heutigen Grenzen konsolidiert und war damit zum Hüter der Heiligen Stätten von Mekka und Medina geworden.

Zur Familie Al Saud zählen zur Zeit ca.10 000 „Prinzen“. Diese genießen besondere Rechte im Staat und stehen über Recht und Ordnung. Zu dieser Schicht zählen auch Mitglieder anderer Familien, die Pakte mit den Al Saud haben.

2.2.  Die Geschichte der Erdölentdeckung in der arabischen Halbinsel
 

1933 vergab König Abd al-Aziz al-Saud Erdölkonzessionen an ein amerikanisches Konsortium gegen eine Abschlussgebühr von 50 000 Pfund Sterling(damals 1 Million DM) und einer Konzessionszahl von 50 000 Pfund Sterling. Der Erste große Erfolg der Konsorten war 1948 die Entdeckung des 269 km langen Gawar-Erdölfelds, das als größtes festländisches Erdölfeld der Welt gilt.

Durch die ungeheuren Einnahmen aus dem Erdöl- und Erdgasexport, vollzog sich ein starker industrieller und wirtschaftlicher Einbruch in eine zuvor relativ abgeschlossene Welt des Nomaden- und Oasenbauerntums. Dies führte zu raschen Entwicklungen und Veränderungen in den Lebensformen der Bevölkerung der arabischen Halbinsel, so wie sie sie nie zuvor erlebt hatten. Diese überstürzende Entwicklung ergab eine Vielzahl von Problemen sowie geoökologische Belastungen und Fehlentwicklungen, die in sozialer und politischer Unsicherheit, Armut und sozialem Elend einiger Bevölkerungsgruppen resultierten.

Die Kluft zwischen der Gigantomanie zahlreicher Projekte und dem daraus resultierenden „verwestlichten“ Lebensstil einerseits und der traditionellen Stammes- und Nomadengesellschaft mit ihren strengen moralischen und religiösen Lebensformen andrerseits war nur schwer zu überbrücken 6.

Das von Al Saud ausgebaute politische System überlebte auf eine Balance zwischen drei Faktoren: 1) Religion; 2) Familien und Sippen-Loyalität und 3) begrenzt moderne Regierungs-Mechanismen.

Mit Hilfe der Wahhabiten gründete Abd al Aziz zahlreiche militärische-landwirtschaftliche Kommunen, die aus verschiedenen Stammesmitgliedern bestanden und unter einem religiösen Bund namens Ikhwan[7] 7 vereint wurden.

Abd Al-Aziz benutzte die Ikhwan, um seine Dynastie in der Region zu erweitern. Doch als die Ikhwan immer einfußreicher wurden und sie Abd al-Aziz’ Beziehung zu den Briten kritisierten, vernichtete er sie 1929.8

Durch die Einnahmen aus dem Erdöl bekam der Staat ein Machtinstrument, das keine andere Politische Führung innerhalb der Geschichte der Region je gehabt hatte. F. Gregory Gause sagt in“Oil Monarchies” darüber: 

“.. it was the coming of the oil revenues that finally and decisively shifted the balance of power away from tribal structures and towards the state. With oil money the rulers ceased to rely upon local groupings, tribal or urban, for financial support. Rather, they now had money to give away, or, better put to bargain for political loyalty and service. Tribal leaders were put on state payrolls, with generous regular salaries replacing the irregular and less lucrative subsides of the past.. the tribal sheikhs have become salaried employees of the state”.9
 

Um die religiösen Führer zu besänftigen, wurde eine einfache Formel benutzt; hierzu Gause: 

”The Saudi ulama’s influence is great in certain areas. But in exchange their role in other areas, such as state financial and economic affairs and foreignpolicy, has been limited. For the Saudi government the trade off is clear: power in certain areas in exchange for political loyalty and support”.10
 

Die von den Staaten der arabischen Halbinsel repräsentierte Geschichte ist eine konstruierte Geschichte, eine „civic myth“. Zahlreiche Studien und Ausstellungen werden vom Staat für die Konstruktion dieser Legende finanziert. Diese porträtieren die Herrscherfamilie, die jegliches andere ins Land eingeführte gedruckte, gesprochene und verfilmte Material zensiert  und Einflüsse von Außen (wie z.B. Bücher u. Internet) unterbindet. Munifs Romane sind in Saudi-Arabien verboten. 

3. Munifs Werke im Überblick

at-Tih (Weglose Wildnis)

Dieser historische Roman ist der erste Teil einer fünfteiligen Pentalogie, Mudun al milh. Er stellt die Entwicklung der Ölstaaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts dar und den Wandel, den Saudi-Arabien vom Beduinentum zum Ölstaat vollzogen hat, vorgeführt an zwei Dörfer, einem Beduinendorf und einem Fischerdorf.

Die Spannung in diesem Roman wird weniger durch die Ereignisse selbst erzeugt als durch die Darstellung der einheimischen Bevölkerung, die die Veränderung ihrer Umwelt auf ganz besonderer Weise wahrnehmen und aufmerksam beobachten.11

Sirat madina (Geschichte einer Stadt)

Diese Chronologie gibt den Leser ein Bild von Amman in den 40er Jahren aus dem Blickwinkel eines Kindes, das in diesem Fall Munif selbst ist.

Besonders interessant sind die multikulturelle Atmosphäre, die Amman in diesen Jahren prägte, die verschieden Schulsysteme, die vielen Zitate und Äußerungen verschiedener Persönlichkeiten der Zeit, die eine Vorstellung vom Geist der Zeit geben, und die technische Entwicklung (z.B. der Wandel von der Naturheilkunst zur moderner Medizin).

Dieser Roman enthält eine Fülle von Detailbeobachtungen, die Munifs Talent beweisen.12

al-Aschjar wa gtiyal Marzuq (Bäume und die Ermordung Marzuqs)

Das Hauptthema in diesem Roman ist die Konfrontation des Intellektuellen mit der Realität. Es beginnt mit einerzufälligen Begegnung in der Bahn zwischen Ilias Nahle und Mansur. Elias wechselt häufig seinen Job und befindet sich auf der hoffnungslosen Suche nach einer Lebenspartnerin. Er wundert sich immerzu, warum die Menschen Bäume fällen und sieht eine Ähnlichkeit zwischen Frauen und Bäume. Er glaubt, dass Hanna, seine verstorbene Frau, „der einzige Baum in seinem Leben war“. Der Baum symbolisiert in diesem Roman das Irdische, Kontinuität und Wirklichkeit.Die Dinge verlieren ihren Sinn, ihren Zusammenhang, wenn der Baum gefällt wird.Ilias repräsentiert den Menschen, der mit dem täglichen Leben beschäftigt ist, der die Last der Realität spürt und beschreiben kann. Mansur dagegen repräsentiert den pessimistischen, haltlosen, immer klagenden Intellektuellen. Er studiert im Westen und kehrt als Professor zurück, wird jedoch von der Armee einbezogen und erlebt den arabisch-israelischen Krieg und die Niederlage von 1967. Wie viele andere kritisiert er den Staat und wird durch die Repressionsmethoden des Regimes zum Schweigen gebracht. Er verliert seine Arbeit und kommt zu einem Punkt, an dem er keine Beziehung mehr zu anderen Menschen aufbauen kann.13

Sibaq al-masafat at-tawila (Der Langstreckenlauf)

Die Ereignisse dieses Romans beruhen auf wichtige Geschehnisse der neuen Geschichte Irans: Die Nationalisierung des Erdöls im Iran (1952) und der Kampf zwischen den USA und England um das iranische Erdöl. 

Das Geschehen wird zum größten Teil aus der Sicht eines britischen Offiziers namens McDonald erzählt, der sich in eine iranische Frau (Schirin) verliebt.14

Scharq al-mutawassit (Östlich des Mittelmeers)

Dieser Roman handelt vom politischen Leben des Nahen Ostens, von Gefangenschaft, Exil und Rückkehr in die Heimat.

Wie der Titel schon andeutet, finden die Ereignisse im Nahen Osten statt.Ragab, der Protagonist dieses Romans, bekommt  wegen seiner politischen Überzeugungen die Repression des Staates hart zu spüren. Er entscheidet sich., seine Erlebnisse in einem Roman niederzuschreiben, obwohl er mittlerweile zur Erkenntnis kommt, dass Worte keine Wirkung mehr haben. Deswegen schreibt er seinen Roman auf eine „verrückte Weise“, ohne Zusammenhang oder Logik. Er will, dass alle Figuren seines Romans gleichzeitig reden, ohne dass der eine dem anderen wirklich zuhört. Munif beginnt diesen Roman mit einem Zitat aus der internationalen Menschenrechtserklärung.15

al-An, huna aw „Scharq al mutawassit“ marratun ukhra (Hier und jetzt, oder „Östlich des Mittelmeers noch einmal)

Tali al-Arrifi, der Protagonist dieses Romans, entscheidet sich, einen Roman zu schreiben, genau wie schon Ragab in „Scharq al-mutawassit“. Zu seinem Freund Adil sagt er: „Ich will euch nicht den Gefallen tun und Geschichten über Gefängnisse erzählen“.

Die Ähnlichkeit zwischen diesem Roman und „Scharq al-mutawassit“ ist bezeichnend. Der syrische Kritiker Abd ar-Razzaq Id glaubt, dass sich am Beispiel dieser beiden Romane eine Entwicklung aufzeichnen lässt im Ansatz von Munifs Kritik vom lediglichen „Verurteilen“ zum „Zerlegen“ des politischen Systems.16 Munif selbst sagt über seine Absicht: 

„Meine Absicht ist nicht, Mitleid zu erregen oder Heldentum zu beweisen. Es geht um das System und sein Konstrukt“17

Ard as-sawad (Das schwarze Land)

Dieser Roman handelt vom Irak, der wegen der fruchtbaren Erde „Das schwarze Land“ genannt wird.

Munif sieht die Beziehungen der verschiedenen Gruppen innerhalb der irakischen Gesellschaft als sehr komplex. Dies spiegelt sich insbesondere in den Beziehungen zwischen Stadt und Land wider. Munif verlegt die Handlung ins 19. Jahrhundert während der osmanischen Eroberung des Iraks, die er durch Dawud Pascha, dem Gouverneur (Wali) desIrak, ein in Georgien geborener, als Sklave nach dem Irak gekommener und vom Dienstleiter zum Wali aufgestiegener Mamluk, repräsentiert.

In einigen seiner Romane versuchtMunif, der Gedankenwelt der „abnormen, geisteskranken“ oder isolierten Individuen näher zu kommen, also der Randgruppen in der Gesellschaft, die eine eher „unwichtige“ Rolle spielen. Er sagt in diesem Zusammenhang:

„ der Verrückte ist die Ausnahme. Trotzdem sagt die Art, wie er handelt, und die Art, wie andere mit ihn umgehen, eine Menge aus über bestimmte Einstellungen und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft, die normalerweiseim Schatten bleiben“

Beispiele dafür findet man in Ard as-sawadund at-Tih (in at-Tih verliert Mut’ib nach Ankunft der Amerikaner den Verstand).

Munif versucht in Ard as-sawad, die Bewohner des Irak, wo er studiert und gearbeitet hatte, näher zu beschreiben und den Beziehungen der verschiedenen Gruppierungen untereinander auf den Grund zu gehen. Der Roman enthält eine Vielzahl von Detailbeobachtungen, die, wie Munif sagt, “wie Teile in einem Mosaiksind“.

4. Zentrale Ideen in Munifs Werken
 

4.1. Die Interpretation der modernen arabischen Geschichte in Munifs Romanen

Munif glaubt, dass sich die arabische Gesellschaft noch nicht genügend mit der zeitgenössischen Geschichte auseinandergesetzt hat und dass dies gravierende Konsequenzen haben wird.18

Es würden Beispielsweise kaum Stadt-Chroniken geschrieben. Die Bevölkerung lebten in „Städten ohne Geschichte“; die moderne arabische Geschichte, die in den Schulen gelehrt würde, sei eine von der Regierung „zusammengeflickte Geschichte“.19 Diese von offizieller Seite dargestellten Geschichte sei dafür entstanden, die Erfolge der Machthaber hervorzuheben.20

Munifs Ziel in diesem Bereich ist „die Klärung der Hintergründe für die Mißerfolge in der modernen arabischen Geschichte“, die sich immer wiederholen würden.21 [21] Munif glaubt, dass sich die arabische Welt heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, politisch in der Sackgasse befindet. In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts hätte es noch eine wirkliche Chance gegeben, die arabischen Staaten demokratisch zu institutionalisieren, doch das Konzept des modernen Staates sei dann mehr und mehr in den Hintergrund getrieben worden. Nach Munifs Meinung verharre die arabische Gesellschaft immer noch in der Mentalität der Klans und des Beduinentums, im negativen Sinne. Das Beduinentum habe seine positiven Seiten verloren, da es von modernen politischen Interessen beherrscht werde.22 [22]

In seinem Buch „Oil Monarchies“beschreibt F. Gregory Gause Abd ar-Rahman Munif als einen Autor, der das Nomadenleben vor der Entdeckung des Erdöls in der arabischen Halbinsel idealisiere. Er sagt 

„There are some critics who idealize tribal and village life before the advent of oil wealth, criticizing the regimes for allowing and encouraging the social and cultural change it brought. Perhaps the best known of such critics to American audience is Abdelrahman Munif.. it is irony that someone whose political affiliation are leftist and Arab nationalist would engage in radical nostalgia for pre-industrial era”23
 

Munif sagt jedoch, dass sein Ziel in Mudun al-milh, auf die sich Gaus bezieht, eine “Revision der von den Regierenden geflickten Geschichte sei und nicht das Annullieren einer schönen gebräuchlichen Vergangenheit“.24[24]

Ein anderer Grund für Munifs Interesse an der Geschichte ist die Suche nach originellen arabischen Stilformen, die den arabischen Roman vom westlichen Modell abgrenzen und etwas grundlegend Neues bringen.25[25]

Als besorgniserregend empfindet Munif die Kluft in der arabischen Sprache zwischen Hochsprache und Dialekt. Er glaubt, dass sich hinter dieser Kluft eine bei Weitem viel ernster zu nehmendes Problem verbirgt: die Kluft zwischen dem einfachen Volk und dem Intellektuellen. Dieses Problem kann nach Munifs Meinung nur durch einen langen und mühsamen Prozess gelöst werden. Die arabische Grammatik und Syntax müsse stufenweise vereinfacht werden, damit die Schriftsprache langsam der gesprochenen Sprache angeglichen werden könne.26

4.2.  Demokratie und der Westen in Munifs Literatur

Munif sieht das arabische Individuum doppelt gefangen: gefangen im „Staat“ und gefangen in der Gesellschaft. Die Demokratie ist für ihn die einzige Möglichkeit, die arabische Welt in das moderne Zeitalter einzubinden. Um dieses Thema handelt sein Buch ad-Dimuqratiyya awwalan .. ad-dimuqratiyya da’iman27 (Demokratie für den Anfang.. Demokratie für immer).

Munif glaubt nicht an den Kampf zwischen den Kulturen. Er sagt: 
 

„Es ist kein West-Ost-Konflikt oder eine Frage des Kulturkampfes. Es ist eine gestörte Beziehung zwischen zwei ungleichen Parteien.“28
 

Dennoch versucht er in seinen Romanen, die kolonialistische Mentalität aufzuzeichnen. In at-Tih wird dies durch die Gespräche zwischen den amerikanischen Vorgesetzten und den arabischen Arbeitern, und in Ard as-sawad im Charakter des englischen Konsuls verdeutlicht. Munif ist gegen eine uniforme Weltkultur, in der die stärkere Partei der schwächeren ihre Werte aufsetzt. Deshalb beschäftigt er sich mit der arabischen Geschichte, denn er meint, dass “der Prozess des Sich-Selbst-Kennenlernens das Selbstbewusstsein stärkt und die Beziehung zu den anderen mit bestimmt“29 .

4.3.  Politik versus Literatur

Die Hauptkritik, die an Munif gerichtet wird, ist, dass er sich von der Politik verabschiedet habe. Enttäuscht von der Politik, habe er sich der Literatur zugewandt, doch seien seine Romane deshalb zu sehr politisiert worden.30 Munif sagt in diesem Zusammenhang:

„Ich verließ einen bestimmten Bereich von politischer Arbeit und fand in der Literatur,genauer im Roman, eine Möglichkeit, zu den Leuten zu sprechen und meine Ideen und Träume zum Ausdruck zu bringen. Mir war bewusst, dass jede Art von Arbeit ihre jeweiligeInstrumente benötigt. Ich habe meine Romane nicht zu politischen Manifesten gemacht. Auch war mir bewusst, dass Romane allein nicht die Wirklichkeit ändern können“.31
 

Trotz dieser Äußerung findet man in den meisten Werke Munifs einen klaren Bezug zu den aktuellen Geschehnissen in der arabischen Welt mit Lösungsvorschlägen für die Zukunft. Er bestreitet nicht, dass seine Romane politische Aussagen enthalten. Die Frage ist jedoch die, wie das politische Engagement Munifs in seinen Romanen zum Ausdruck kommt und welche Änderungen er vorschlägt.

Munif sieht das Ziel der Literatur und Kunst darin, den Menschen zu ändern, indem sie ihn den tieferen Sinn der Dinge sehen machen lassen, und es ihm so ermöglichen, seine heutige Wirklichkeit und Position in der Geschichte besser wahrzunehmen und zu verstehen. Dadurch wird der Mensch sensibler gegenüber seiner Umwelt. Munif will, dass diese Sensibilität den Menschen aktiviert, ihn anspornt, gegen Unrecht zu rebellieren.32 Doch er sagt in einem anderen Zusammenhang, dass er „vieles mag, was die Revolutionäre nicht mögen“.33

Er warnt vor einer rein politischen Lesart seiner Romane. Man könne die Fehler von heute und gestern nicht auf morgen übertragen. Er fügt hinzu, dass der Roman seine wahre Rolle verliere, wenn er „die rechte Hand der Politik wirdein Roman ist ein Stück vom Leben mit all seinen Farben, Träumen und Wünschen34 .
 

Andererseits sieht er keine automatische Beziehung zwischen Literatur und Politik, indem die eine den anderen ergänzt, sondern dass jede der beiden seinen eigenen Entfaltungsraum hat und sich nur mit dem anderen an bestimmten Stellen überschneidet.
 

Kurzdarstellung des Romans at-TihWadi al-Uyun (Tal der Wasserquellen), ist eine Oase im Osten Saudi-Arabiens. Der Erzähler beschreibt sie als einen Ort, der von seiner Umwelt losgelöst zu sein scheint:  “Wer die Oase Wadi al-Uyun sieht, denkt, dass sie plötzlich vom Himmel heruntergefallenoder aus der Erde auferstanden ist. Wenn man neben dem letzten Baum des Dorfes steht, hat man den Eindruck, ans Ende des Lebens gestoßen zu sein“.

Dieses Dorf gewinnt an Bedeutung, als es Station für Karawanen wird, die innerhalb der arabischen Halbinsel reisen. Dort verweilen Kaufleute, handeln und sammeln Informationen über andere Karawanen. Die Bewohner des Dorfes verkaufen ihr Vieh an Reisende und versorgen sie mit Wasser und Proviant. In den regenreichen Jahren sind die Bewohner den Fremden gegenüber auffällig großzügig, in den Dürrejahren dagegen geben sie zu verstehen, dass sie nichts dagegen haben, wenn die Reisenden das Dorf früher verlassen. Einige Reisende nennen die Bewohner von Wadi al-Uyun deshalb „Große Kinder“.

Wenn die Population des Dorfes ein bestimmtes Maß übersteigt, wächst das Fernweh bei den Jungendlichen. Ihre Reisen dauern meistens mehrere Jahre, und sie kommen mit vielen Ideen und Geschichten zurück. Doch die Dörfler können diese Geschichten meist nicht nachvollziehen. Die Regierung taucht mehr als Störfaktor auf: als sie einen Ausschuss schickt, um die Bevölkerung zu zählen, sind die Dorfbewohner besorgt, da sie wissen, dies bedeutet, dass ihre Kinder zur Armee gehen müssen. 

Der Erzähler erwähnt nun Mut’ib al-hadhdhal vom Stamm al-Utum, ein großer Stamm, der für seine Kriege gegen die Türken bekannt wurde. Mut’ib taucht im Roman immer wieder auf, obwohl er nur am Anfang des Romans als handelnde Person agiert, und dies in einem ganz besonderen Vorfall.

Eines Tages kommen nämlich Amerikaner ins Dorf, die durch ihren Akzent auffallen. Sie haben eine Empfehlung vom Emir und behaupten, den Dörflern helfen zu wollen. Mut’ib, der auf Besucher generell neugierig ist, zweifelt an ihre guten Absichten. Das Verhalten der Amerikaner ist für keinen der Dörfler einsichtig: Sie sammeln Steine und Pflanzen, schlagen Pflöcke in die Erde, rezitieren Koranverse, fragen die Leute über ihre Stämmen aus, ihre Sitten und Gebräuche aus, und jeden Abend vor dem Einschlafen schreiben sie in einer unbekannten Schrift irgend etwas in ihren seltsamen Büchern.

Nach einer Weile verschwinden die Amerikaner. Viele halten sie deshalb für normale Durchreisende und versuchen, sie zu vergessen. Doch Mut’ib bleibt mißtrauisch. Die Amerikaner kehren zurück, bauen ein Lager und setzen ihre Arbeit fort. Die Dörfler fühlen sich zunehmend bedroht, z.B. von lauten Maschinenlärm und nächtlichen Scheinwerfern, Dinge, die sie nie zuvor sahen. Ein anderer Punkt ist, dass die Fremden ständig am Brunnen, wo die Dorffrauen sich aufhalten, arbeiten. Schließlich beschweren die Bewohner sich beim Emir, der sie beruhigt. Er versichert ihnen, keinen Bruch mit der Moral zuzulassen und verspricht ihnen, bald reich zu werden. Mut’ib lässt sich nicht besänftigen und fühlt sich von seinen Mitbewohnern im Stich gelassen. Alle steigen ins lukrative Geschäft ein und beginnen, ihre Grundstücke zu enormen Preise zu verkaufen.

Nach einiger Zeit kommen die Amerikaner mit Planierraupen zur Oase zurück und ebnen das Dorf ein. Scheich Ibn ar-Raschid fordertdie Leute auf, in den Ersatzsiedlungen umzuziehen, die der Staat für sie zur Verfügung stellt. An diesem Tag verschwindet Mut’ib auf geheimnisvolle Weise. Er existiert im folgenden Romanverlauf nur noch als eine Art Spuckgestalt in den Köpfen der Menschen. Und zwar immer dann, wenn sie traurig sind, erscheint er ihnen als Vision. Oder er taucht im Zusammenhang mit ungeklärten Anschlägen auf die amerikanischen Projekte auf. Mut’ibs Familie bekommt keine Wohnung, da er als einziger nicht kooperiert.

Der ältere Sohn bekommt eine Stelle in der amerikanischen Firma, die sich im ehemaligen Dorf angesiedelt hat. Der jüngere, Fawwaz, begleitet Scheich Ibn ar-Raschid nach Harran, einer Stadt am Meer. Der Stammesscheich wird zum Arbeitsvermittler der Firma, die auch die Stadt Harran zu einer Baustelle verwandelt, um aus ihr eine Hafenstadt zu gründen.

Im folgenden beschreibt der Erzähler die Entwicklung des Lebens in den neuen Ölstädten am Beispiel der Stadt Harran. Insbesondere geht erauf den Kulturschock ein, den die Einheimischen durchleben (sie erleben beispielsweise die Klimaanlage und das Auto als wahre Wunder). Zur Einweihungsfeier kommt eigens aus den USA ein Luxusschiff mit einem Unterhaltungs-Programm, das dem von Las Vegas vergleichbar ist. Die Einheimischen können sich gar nicht vorstellen, dass diese Art von Leben real ist, in demFrauen und Männer auf derart freizügige Weise miteinander verkehren. Dieser Tag bleibt in der Erinnerung der Bewohner hängen, und wird zu einer Art Motiv.

Die Kluft zwischen ihrem technisch entwickelten Leben und ihrer weiterhin durch Stammesstrukturen geprägte Denkweise wird an mehreren Beispielen verdeutlicht (ein Mann versteht nicht, weshalb er nach dem tödlichen Arbeitsunfall eines Verwandten nicht nach den Gesetzen der Blutrache agieren kann).

Durch den Zustrom von Kaufleuten und Arbeitern aus den Nachbargebieten verschiebt sich die wirtschaftliche Lage und es entstehen Konflikte, z.B. zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber (in diesem Fall die Amerikaner), zwischen den Groß- und Kleinhändlern und zwischen denjenigen Geschäftsleuten, die mit den Amerikanern arbeiten, und solchen, die mit den Einheimischen sympathisieren. Letztere werden von den Großkaufleuten verdrängt.

Die Werte und Maßstäbe ändern sich. Neben der amerikanischen Siedlung zu wohnen wird zum Privileg der Reichen, bestätigt durch die Ehrfurcht der minderwertigen Gesellschaftsklassen.

Der Stammesoberhaupt (oder Scheich), der als Schlichter und Richter dem Stamm vorgestanden war, wird nun durch Staatsorgane wie Polizei und Armee ersetzt. Der Emir ist zu sehr mit den kostbaren und wunderbaren Geschenken der Kaufleute beschäftigt, als dass er sich für das Wohlergehen des Volkes noch interessieren könnte und verliert allmählich den Verstand. Die wirkliche Macht übt der Polizeichef aus. Dieser schlägt kurz vor Ende des Romans einen Aufstand nieder, der durch die Entlassung von 30 Arbeitern ausgelöst worden war.Mit diesem Aufstand erreicht der Roman seinen Höhepunkt: In einer Vision taucht Mut’ib als Rächer auf. DieRoman endet damit, dass die 30 Arbeiter von der Firma wieder eingestellt werden, mit der Bedingung der Regierung, die Verantwortung für die Opfer selbst zu tragen.

Literaturhinweise Munifs Werke: – al-Aschjar wa gtiyal Marzuq (Bäume und die Ermordung Marzuqs). Beirut 1973. – Qissat hubb majusiya (Liebesgeschichte eines Magiers). Beirut 1974 – Scharq al-mutawassit (Östlich des Mittelmeers). Beirut 1975 – Hina tarakna al-jisr (Als wir die Brücke verließen). Beirut 1976 – An-nihayat (Die Enden) Beirut 1977 – Sibaq al-masafat at-tawila (Der Langstreckenlauf). Beirut 1979 – Alam bila khara’it (Eine Welt ohne Karten). Mit Jabra I. Jabra. Beirut 1982 – PentalogieMudun al-milh (Die Salzstädte): at-Tih (Weglose Wildnis). Beirut 1984. al-Ukhdud (Die Furche) Beirut 1985 Taqasim al-layl wa-n-nahar (Tag- und Nacht-Melodien). Beirut 1989. al-Manbat (Die Baumschule) Beirut 1989. Badiyat az-zulumat (Die Wüste der Finsternis). Beirut 1989. al-An huna aw „Scharq al-mutawassit marratun ukhra (Hier und Jetzt,.. oder „Östlich des      Mittelmeers noch einmal). Beirut 1990. ad-Dimuqratiyya awwalan .. ad-dimuqratiyya da’iman (Demokratie für den Anfang..  Demokratie für immer). Beirut 1991 – Sirat madina (Geschichte einer Stadt). Damascus 1994. – Marwan Qassab Pascha. Beirut 1996.

Sekundärliteratur und Übersetzungen:
 

Abd ar-Rahman Munif. Mudun al-milh, at-Tih.Verlag: al-Mu’assasa al-arabiyya li-d-dirasat 

wa-naschr. Beirut 1988 (dritte Auflage) Muhammad al-Buti: Fiqh, as-sira an-nabawiyya.Verlag: Dar al-fikr al-mu’asir, 1991 Beirut.  Hans Karl Barth, Konrad Schliephanke: Saudi Arabien. Justus,Perthes Verlag. Gotha 1998.  Fu’ad al-Farisi: Neuzeit und Tradition. Knight Communications. London 1992. A Library of Literary Criticism. Hg. Roger Allen. The Ungur Publishing Company. New  York 1987 al-Jadid fi alam al-kutub wa-l-maktabat. Bd. 12 / Winter 1996.

Abdalrachman Munif: Geschichte einer Stadt. Aus dem Arabischen von Larissa Bender und 

Hartmut Fähndrich übersetzt. Lenos Verlag, Basel 1996

Internet:

– Library of Congress, History of Syria. Internet: http://lcweb2.loc.gov/frd/cs/sytoc.html

– al Karmel.Issue: 63 Spring 2000. Internet: www.alkarmel.org/prenumber/prenumber.html

-The Columbia Encyclopedia: Sixth Edition.2000. Ba’ath party. Internet: http://www.bartleby.com/65/ba/Baathpar.html

-F. Gregory Gause: Oil Monarchies, Internet: http://www.arts.mcgill.ca/programs/icas/gause/gausetoc.html

-Website der Saudiarabischen Regierung: www.saudinf.co
 


  1. 1963 wurden, nach einen militärischen Putsch, alle Partien in Syrien außer der Baath Partei für illegal erklärt. Für mehr Informationen siehe:The Columbia Encyclopedia: Sixth Edition.  2000. Ba’ath party.Internet: http://www.bartleby.com/65/ba/Baathpar.html.
  2. al-Jadid fi alam al-kutub wa-l-maktabat, Vol 12 / Winter 1996.
  3. Eine Liste seiner Werke ist als Anhang beigefügt.
  4. Aus dem Arabischen übersetzt von Larissa Bender. Leons Verlag, Basel 1995.
  5. Erstmals erschienen in Beirut, 1984.
  6. EBD.:S.15.
  7. Dieser ist nicht mit der islamischen Ikhwan -Bewegung in Ägypten zu verwechseln.
  8. F. Gregory Gause: Oil Monarchies, Internet: : http://www.arts.mcgill.ca/programs/icas/gause/gausetoc.html
  9. Ebd.
  10. Ebd.
  11. Abd al-Rahman Munif. Mudun al-milh: at-Tih. al-Mu’assasa al-arabiyya li-d-dirasat wa-nashr. Beirut 1988. 
  12. Abdalrachman Munif: Geschichte einer Stadt. Aus dem Arabischen von Larissa Bender und Hartmut Fähndrich. Lenos Verlag, Basel 1996
  13. Ilyas Khuri. Tajribat al-bahth an ufuq (Beirut, Palestine Essays No.44, 1974) ,106 ff. In : A Library of LiteraryCriticism, edited by Roger Allen. The Ungur Publishing Company. New York 1987
  14. Abdallah Niyazi. Adwa wa Afaq. Feb. 6,1980. In :A Library of Litrary Criticism, edited by Roger Allen. The Ungur Publishing Company. New York 1987
  15. Muhsin Jassim Ali. Journal of Arabic Literature. 14, 1983, p.74. In :A Library of Litrary Criticism, edited by Roger Allen. The Ungur Publishing Company. New York 1987
  16. al Jadid fi Alam al-kutub wa-l-maktabat, Vol 12 / Winter 1996. 
  17. Ebd.
  18. Ebd. S. 94
  19. Ebd. S. 95
  20. Eigenen Vergleich zwischen Jordanische und Syrische Geschichtsschulbücher
  21. al Karmel, Issue 63 Spring 2000Internet.
  22. Vortrag von Munif in der arabischen Buch Messe In Damaskus. February /1998
  23. F. Gregory Gause, Oil Monarchies. Internet: http://www.arts.mcgill.ca/programs/icas/gause/gausetoc.html
  24. al-Jadid fi alam al-kutub wa-l-maktabat. (arabische Zeitschrift)Vol 12 / Winter 1996.S.13
  25. al-Karmel.
  26. al-Karmel. S. 108
  27. Erstmal 1991 in Beirut erschienen.
  28. al-Jadid fi alam al-kutub wa-l-maktabat. Vol 12 / Winter 1996. 
  29. al-Karmel.Issue 63 Spring 2000Internet:www.alkarmel.org/prenumber/prenumber.html
  30. Ebd.
  31. Ebd.
  32. Ebd.
  33. al Jadid fi alam al-kutub wa-l-maktabat. Vol 12 / Winter 1996.
  34. al-Karmel.
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