Globalisierung und die Ängste der arabischen Welt

العربية

von Prof. Kadhim A. Habib 

„Wenn du über das Leben des Meeres sprechen willst, reicht es nicht aus, die Wellen und das Auftauchen der Schiffe zu beschreiben. Du mußt den Meeresgrund verstehen, der voll ist mit Besonderheiten, Strömungen und Ungeheuer. Du mußt auch den Schiffsgrund verstehen, wo die Sklaven und Seemänner tagelang rudern. Mit ihren Armen bewegen sie Waren, Reichtum und Reisende vorwärts. Sie schwitzen und ihre Körper werden von Peitschenhieben zerrissen…Jawohl! Du mußt mir ein vollständiges Bild geben, wenn du mich von etwas überzeugen willst.“
Aus der Muqaddima von Ibn Khaldun (arabischer Historiker 1332-1406)
 

Welche Ängste hat die arabisch-islamische Welt vor der Globalisierung?

Seit einigen Jahren sorgt die Globalisierung in der arabischen Welt für hitzige Diskussionen, die sich meistens auf wenige Intellektuelle und einige politische Kräfte beschränken. Die Meinungen gehen stark auseinander. Es gibt hartnäckige Gegner, begeisterte Befürworter und besorgte Zögerer. Aber alle, die an der Diskussion beteiligt sind, konnten nicht das Interesse der verschiedenen sozialen Schichten für die Teilnahme an der Diskussion erregen, obwohl das Thema eng mit dem Leben der Menschen, ihren Arbeitsplätzen und ihr Einkommen verbunden ist. Die Befürworter und Gegner der Globalisierung gehören verschiedenen politischen Richtungen an und sind mit unterschiedlichen sozialen Schichten verbunden. Die Gegner der Globalisierung bestehen aus linke Kräfte, Nationalisten, Islamisten und Gewerkschaftler. Alle gehen von unterschiedlichen Ausgangspositionen aus. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten zwischen den Nationalisten und den Anhängern des politischen Islam, aber die Unterschiede zu den arabischen Linken bleiben offensichtlich.

Die Befürworter der Globalisierung sind auf einige Intellektuellen und liberale Politiker beschränkt, die die Position ihrer Regierungen wiederspieglen oder Druck auf diese Regierungen ausüben, damit sie die Strategien und Praktiken der Globalisierung übernehmen, wie es in Ägypten, Tunesien, Libanon und Marokko der Fall ist.

Die Globalisierung ruft in den arabischen Gesellschaften eine Vielzahl von unangenehmen Erinnerungen wach und wird mit Ungerechtigkeiten in Verbindung gebracht, die der Westen gegenüber den Arabern und Muslimen begangen hat. Welche Ängste löst die Globalisierung konkret aus? Wie wird mit der Globalisierung heute in der arabischen Welt umgegangen? Und wie berechtigt sind diese Ängste? Dieser Beitrag versucht, aus einer anderen Perspektive als die in den forschrittlichen kapitalistischen Ländern üblich ist auf einige dieser Fragen eine Antwort zu geben.

1. Für die meisten Araber aus dem linken Lager ist die Globalisierung ein objektiver Prozeß und eine fortgeschrittene Phase im internationalen kapitalistischen System. Dieser Prozeß wird allerdings von den Ländern angeführt, die eine neoliberale Politik verfolgen und die Errungenschaft der dritten industriellen Revolution (die Informations- und Kommunikationsrevolution) für die Ausbeutung ihrer Völker einsetzen und für Ausbeutung und Marginalisierung der Länder der Dritten Welt benutzen. Aus diesem Grund raten diese Stimmen die arabischen Länder davon ab, bei der kapitalistischen Globalisierung mitzumachen, um noch mehr Abhängigkeit und Marginalisierung zu vermeiden. Der wirtschaftliche und soziale Aufschwung sollte aus eigenen Kräften erreicht werden. Diese Sichtweise genießt deutliche Zustimmung in breiten Schichten der arabischen Bevölkerung. Wohlgemerkt hat die arabische Linke, unter anderem auch die Marxisten, keine Schwierigkeiten mit der Globalisierung, wenn es um den Säkularismus oder um die kulturelle und technologische Erneuerung geht. Einige sehen in dem Prozeß auch keine Bedrohung für die kulturelle Identität. Die Linke konzentriert sich auf die negativen wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung für ihre Gesellschaften und auf die Konflikte und Widersprüche, die weltweit daraus entstehen. Einige Linke sehen sogar in der Globalisierung eine willkommene Gelegenheit den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung zu beschleunigen und die aktuelle Situation zu ändern. Sie sind überzeugt, daß ihre Länder die Voraussetzungen haben die Herausforderung anzunehmen, wenn sie sich um Zusammenarbeit und Koordination bemühen würden. Als Beispiel für eine denkbare Entwicklung innerhalb des Kapitalismus führen sie die asiatischen Tigerstaaten an.

2. Die arabisch-nationalistischen Kräfte und die Islamisten äußern große Ängste vor der Globalisierung. Sie sehen darin eine riesige Gefahr für die nationalen und religiösen Grundsätze, die auf keinen Fall angetastet werden dürfen. Sie stimmen mit der arabischen Linke überein, wenn es um Ausbeutung, Marginalisierung der Gesellschaften in den Entwicklungsländern und ihre Unterwerfung unter der Politik und den Interessen der fortschrittlichen kapitalistischen Zentren, geht. Es sei noch darauf hingewiesen, daß einige arabische Nationalisten durchaus Laizisten sind.

Die Islamisten und einige aus dem nationalistischen Lager begründen ihre Feindschaft zur Globalisierung mit Konflikten aus der Vergangenheit, angefangen bei den Kreuzzügen, über die direkte oder indirekte kolonialistische Kontrolle auf die arabischen Länder im 19. und 20. Jh. bis hin zu der Politik, die die fortschrittlichen kapitalistischen Ländern gegenüber der arabischen Welt verfolgen. Dazu zählt auch, daß sie der festen Überzeugung sind, daß der Westen immer eine parteiische Haltung zugunsten Israels und gegen die legitimen arabischen Rechte eingenommen hat. Die markantesten Beispiele sind das Palästina-Problem und das Embargo gegen den Irak, das in erster Linie nicht gegen das diktatorische Regime in Bagdad gerichtet sei, sondern gegen das irakische Volk. Ein Großteil der arabischen Bevölkerung betrachtet die Globalisierung aus diesem Blickwinkel. Für sie ist es kein objektiver Prozeß, sondern eine westliche Neuerung. Genauer gesagt ein amerikanisches Projekt, das die arabische und islamische Welt im Namen der Obejektivität und der Unabänderlichkeit der Geschichte unter ihrer totalen Kontrolle bringen soll. Muhammed Abid Al-Djabiri schreibt: „Die Globalisierung verbreitet in der ganzen Welt die kulturelle Form eines bestimmten Landes, die der USA“ (Al-Mustaqbal Al-Arabi 2/1998). Dieses neue westliche Projekt sucht die Konfrontation mit der universalen Sicht des Islam und will sie zerstören . Es ist ein altes feindliches Projekt in neuem Gewand. Ein Dialog über die Globalisierung mit den Vertretern dieser Meinung wird sich äußerst kompliziert gestalten.

Aber um welche nationalistischen und religiösen Grundsätze handelt es sich eigentlich? Anders ausgedrückt: Welche Konfliktpunkte gegenüber der Globalisierung werfen die Islamisten und die arabisch-nationalistischen Kräfte auf?

Erstens: Für die Islamisten und Nationalisten ist die Globalisierung eine direkte Bedrohung der arabischen und islamischen Identität. Sie bedroht das „ich“, das die nationale Zugehörigkeit, Religion, Kultur, Geschichte, Sprache, Gebräuche und die Heimat des arabisch-islamischen Menschen verkörpert. Einige sind der Meinung, daß die Globalisierung christliche Ideen verkündet, das „andere“ schlechthin, das sich auf die westliche Kultur stützt, die wiederrum der orientalischen, arabischen und islamischen Kultur feindlich gesonnen sei. Unter den arabischen Nationalisten gibt es Stimmen, die diesen Aspekt ablehnen. Für sie trägt die Globalisierung nicht christliches Gedankengut, sondern undefinierbare, globale irreführende Ideen, die alle Religionen im Visier hat, auch das Christentum. In diesem Sinne verbreitet sie den Unglauben und den Atheismus. Sie ist eine europäisch-amerikanische Kultur, die den Arabern und allen Religionen feindlich gesonnen sei. Aus diesem Grund sollte sie abgelehnt werden. Sie zu akzeptieren hieße, ihr zu erlauben, die arabisch-islamische Persönlichkeit zu zersetzen und zuzulassen, daß sie vor dem Druck der Globalisierung kapituliert. Diese Stimmen weisen auf die Rolle des französischen Kolonialismus in Nordafrika hin. Die Kolonisten konzentrierten sich darauf, die arabische und islamische Identität der Völker des Maghreb zu annulieren und die Sprache des Koran durch das Französische zu ersetzen. Das wurde besonders in Algerien deutlich. Für diese Leute ist die Globalisierung kein neues Phänomen. Für sie ist es alt. Das Neue daran ist, daß sie von der modernen Technologie getragen wird, die der stärkeren Kultur die Möglichkeit gibt sich der schwächeren Kultur zu entledigen und an ihrer Stelle zu treten. Jahrhundertelang versuchte die westliche Kultur, die arabisch-islamische Kultur zu zerstören. Diese Gefahr zeigt sich heute in der Überschwemmung der Kinos mit amerikanischen Filmen, in den Fernsehstationen mit ihren Sex-, Gewalt-, und Horrorfilmen und die Werbung, die die multinationalen Konzerne verbreiten.

Zweitens: Diese Stimmen sind der Meinung, daß die Globalisierung mit ihrer universalen Beschaffenheit, die der islamischen Universalität feindlich gegenüber steht, versucht, die kulturelle Pluralität im Namen der Globalisierung abzuschaffen und eine einzige Kultur, die angelsächsiche oder amerikanische Kultur, zu etablieren. Diese Kultur werde in der amerikanischen Kleidung (blue jeans) in ihrer Eigenschaft als Einheitskleidung für Männer und Frauen, im Fastfood (Hamburger), in den Fertiggetränken (Pepsi und Coca Cola), in der Freizeitgestaltung, in der Musik, im Lese- und Unterrichtsstoff verkörpert. Die Lebensweise der Araber und Muslime werde völlig übergangen. Die Heimat, die Nation (Umma) und der Staat würden ins Exil getrieben (Muhammed Abid Al-Djabiri, Al-Mustaqbal al-Arabi 2/1998). In den fortschrittlichen kapitalistischen Ländern gibt es Literatur, die zahlreiche Beweise für diesen Konflikt zwischen der Globalissierung und anderen Kulturen aufzeigt, dazu zählt auch die islamische Kultur. Ein Beispiel ist Samuel Huntington.

Drittens: Diese Gegner der Globalisierung meinen, daß die globalisierten westlichen Werte und die Ideologie der Globalisierung die echten, monotheistischen arabischen und islamischen Werte und die arabische Ideologie vernichten wollen. Die Globalisierung ist für sie eine direkte Bedrohung der religiösen monotheisten Grundsätze in ihrer Eigenschaft als universale Normen, die nicht verändert werden dürfen und können. Bei ihrem Feldzug gegen die Globalisierung betonen sie Folgendes:

– Die Welt läuft nach festgelegten universale Normen, die von Gott stammen und nicht verändert werden können.

– Die islamische Religion ist eine universale, allumfassende Religion, die vom Koran und der islamischen Gesetzgebung (Scharia) verkörpert werden. Diese Regelungen können überall auf der Welt praktiziert werden. In ihnen liegen alle Antworten auf Fragen, die das Leben im laufe der verschiedenen Menschheitsepochen aufgeworfen hat. Während die Globalisierung versucht den Prozeß der Aufklärung, den Säkularismus anderen aufzuzwingen und den Staat und die nationale Souveränität zugunsten des Westens und der multinationalen Konzerne zu vernichten, erlaubt der Islam nicht, Religion und Staat zu trennen.

– Der Grund für die Krise, die die islamischen Gesellschaften momentan erleben und für die herrschende Unterdrückung und Verdorbenheit liegt daran, daß die islamische Welt hinter der westlichen Kultur und Zivilisation herrennt. Wenn dieser Niedergang kein Ende findet, bedeutet das das Ende der islamischen Welt und seiner Zivilsation.

– Der jetzige Kampf mit dem Westen ist nur eine neue Runde in den Konfrontationen, die die islamische Welt seit Jahrhunderten mit dem Westen erlebt. Die neue Globalisierung, die sich auf die Zivilisation der fortschrittlichen technologischen Gesellschaften stützt, will moralische Verderbtheit, Unterdrückung und ihre eigenen Sitten und Gebräuche in allen Teilen der islamischen Welt verbreiten. Das zu akzeptieren bedeutetSchwäche zeigen und die Herausforderung aus dem Westen nicht zu bestehen.

– Der einzige Weg sich dieser Entwicklung entgegen zu stellen liegt in der Rückkehr zu den Ursprüngen, in der Vergangenheit des Islam, in der Zeit von Muhammed und seine vier Nachfolger. So lauten die Parolen, die diese Gegner der Globalisierung verkünden: „Der Islam ist die Lösung“ und „Gottes Regentenschaft“ auf Erden errichten, was so viel wie den Aufbau eines islamischen Staates bedeutet.

viertens: Die islamistischen Gegener der Globalisierung verkünden, daß der Westen die arabisch-islamische Kultur und Identität durch die Verbreitung seiner Werte, die keinen Platz im Koran, in der islamische Gesetzgebung (Scharia), in den Gebräuchen und im Erbe der Muslime haben, bekämpft. Dazu zählen insbesondere:

– Der Prozeß der Aufklärung und der Säkularismus, die den islamischen Gesellschaften aufgezwungen werden. Dazu gehört auch die Trennung von Religion und Staat, Demokratie, Menschenrechte westlichen Ursprungs, Gleichberechtigung der Frau, Ablehnung der Polygamie, sexuelle Freiheit, gleichgeschlechtliche Ehe, das Verbot der Sklaverei, die der Islam angeblich nicht verboten hat, Auflösung aller moralischen und familiären Beziehungen und Ablehnung der islamischen Körperstrafen.

Für diese Islamisten verletzen das Fernsehen, die Satellitenprogramme, die Computer und die Handys die Unantastbarkeit der Privaträume islamischer Familien. Mit Gewalt- und Sexfilme werde die dekadente westliche Lebensweise aufgezwungen. Es werde für Waren geworben, die islamisch verwerflich sind, nur mit dem Zielm, die arabisch-islamische Gesellschaft aufzulösen. Besonders die Jugend ist davon betroffen. Sie wird ermutigt, gegen die Gesellschaft, ihre Werte und ihre arabisch-islamischen Gewohnheiten zu revoltieren. Die jungen Leute sind außerstande, diese kulturelle Invasion zu stoppen. Also muß man sich diesen feindlichen Aktionen entgegenstellen. Es sei noch darauf hingewiesen, daß es auch gemäßigte islamistische Kräfte gibt. Es ist nur eine Minderheit. Sie versucht zu unterscheiden zwischen dem, was an der Globalisierung wert ist übernommen zu werden und zwischen dem, was abgelehnt werden sollte.

Die aktuelle Situation in der arabischen Gesellschaft:

Welche soziale und politische Umstände produzieren diese Urteile und diese Ängste vor der Globalisierung?

Die arabische Welt besteht aus 22 Staaten (ohne Palästina), die auf Asien und Afrika verteilt sind. Die meisten der ungefähr 285 Million Einwohner gehören dem islamischen Glauben an. Es gibt auch Angehörige anderer Religionen, besonders Christen. Neben Araber leben dort Angehörige anderer Ethnien, wie zum Beispiel Kurden, Berber (Amazigh), das Volk im Südsudan u.a. Alle arabischen Länder erlebten verschiedene Formen der europäischen kolonialen Hegemonie, vor und nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches. Die modernen arabischen Staaten entstanden in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Staaten nach einem mühsamen und langen Kampf, der ihnen viele Opfer gekostet hat, die politische Unabhängigkeit erlangten. Diese Staaten sind vom internationalen Kapital ausgebeutet worden. Unter den Folgen dieser Ausbeutung leiden sie bis heute. Das hinterließ Spuren in der Erinnerung, im Leben und im Denken der Menschen und beeinflußt bis heute ihr Verhältnis zu den Völkern des kapitalistischen Westens.

Trotz der entwicklungspolitischen Bemühungen in den vergangenen Jahrzehnten, zählen alle arabischen Länder weiterhin zu den Entwicklungsländern, auch Ägypten. Die Ökonomien sind rückständig und instabil. Es existieren weiterhin Reste von patriarchalen Beziehungen und vom Halb-Feudalismus, die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Entwicklung der modernen Zivilgesellschaft behindern. Sie stehen auch dem notwendigen Prozeß der Aufklärung im Weg, der in Europa vor Jahrhunderten bereits stattgefunden hat. Während die arabische Welt noch nicht mal ihre erste industrielle Revolution verwirklicht hat, durchläuft der Westen die dritte Phase der industriellen Revolution. Das ist ein deutlicher Ausdruck für die zivilatorische und technologische Kluft, die die westliche von der arabisch-islamischen Welt trennt. Die nationalen arabischen Ökonomien sind verstümmelt, von Monokulturen und vom rentiersystem geprägt, egal ob es sich um Agrar- oder Erdölwirtschaften handelt. Die Industrien sind unterentwickelt. Das zeigt sich besonders deutlich in der weitgehenden Abhängigkeit von den Importen, die nötig sind, um einen Großteil der heimischen Bedürfnisse zu decken. Hinzu kommen andere Probleme, wie zum Beispiel der Analphabetismus, der auf dem Land und unter Frauen sehr stark verbreitet ist. Die Kapazitäten dieser Länder werden von diktatorischen Regimen kontroliert oder von Regierungen, die sich scheindemokratisch geben, wie zum Beispiel Ägypten, Marokko und Jordanien. In den übrigen Länder wie es im Irak, Sudan, Libyen, Saudiarabien, Tunesien oder Algerien der Fall ist, werden Demokratie und Menschenrechte außer Kraft gesetzt.

Die arabischen Regime haben für ihre Demokratiefeindliche Politik die Unterstützung des Westens und des Ostens gewonnen. Das rief bei der Bevölkerung Mißtrauen und eine besondere Feindschaft gegenüber dem Westen hervor. Außerdem stützte sich der Westen, als es um den Kampf gegen das sozialistische Lager und gegen die kommunistischen Parteien ging, auf die rückwärtsgewandten und fanatischen religiösen Kräfte. Das förderte ihren Einfluß und die Verbreitung von Mythen, Scharlatanerei und Zauberei, an dem die Gesellschaften heute leiden.

Während die arabischen Länder nur ein sehr niedriges wirtschaftliches Wachstum aufweisen, bleibt der Bevölkerungswachstum hoch. Er schwankt jährlich zwischen 2,5 und 3,2%. Alle Länder weisen auch eine ununterbrochene Landflucht auf. Nicht weil es in der Stadt mehr Arbeitsmöglichkeiten gäbe, sondern weil die Menschen vor dem Elend und der verdeckten Arbeitslosigkeit fliehen. Das führt zu einer Bevölkerungsexplosion in den Städten und zum Anwachsen der semi-proletarischen oder der marginalisierten Gruppen. Sie leben in Elendsgürteln um die Städte. Das kann man in den urbanen Zentren Marokkos, Algeriens, des Sudan oder Ägyptens (die Totenstadt) beobachten. Ein weiteres Phänomen ist die Ausdünnung der Mittelschicht. Die Kluft zwischen der reichen Minderheit, die immer reicher wird und der immer größer werdenden Zahl der Armen, wird immer breiter. Die Bevölkerung dieser Länder gibt nicht allein ihren Regierungen die Schuld an dieser Situation, sondern auch dem Westen, der die korrupten Regierungen unterstützt und eine Politik betreibt, die gegen ihre Interessen gerichtet ist. Unter diesen Umständen ist es kaum verwunderlich, daß große Teile der arabischen Bevölkerung keine positiven Erwartungen an dem Westen haben. In der Globalisierung sehen sie einen neuen Weg der Ausbeutung ihrer Ressourcen und der Unterwürfigkeit unter dem Westen.

Die Beschaffenheit der Globalisierung und ihre grundlegenden Inhalte:

Führt die Globalisierung tatsächlich zu diesen Folgen für die Araber und Muslime? Trifft es zu, was Islamisten und linke Kreise über die Globalisierung verbreiten? Um diese Fragen beantworten zu können, sollte man ein realistisches Bild von der Globalisierung zeichnen, dann in diesem Licht die Ängste neu betrachten und sie abwägen.

Objektiv gesehen ist die Globalisierung eine fortgeschrittene und besondere Phase der Entwicklung des Kapitalismus auf internationaler Ebene. Sie ist Produkt der aufeinanderfolgenden industriellen Revolutionen und der strukturellen Veränderungen, die am Ende des 19. und bis in das siebte Jahrzehnt des 20. Jh. tief im Innern des imperialistischen Kapitalismus vor sich ging. Sie nahm mit dem Zusammenbruch des kolonialistischen Systems und dem Beginn der Ausübung neuer Formen der kapitalistischen Vormachtstellung und der Ausbeutung der Dritte-Welt-Völker und Ökonomien in Asien, Afrika, Lateinamerika und einige Teile Europas, deutlichere Züge an. Nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems, das Auseinanderbrechen der Sowjet Union und das Wegfallen der RGW (Rat der wirtschaftlichen Gemeinschaft), beschleunigte sich dieser Prozeß. Wobei sich die Globalisierung erst am Anfang ihrer Entwicklung befindet. Sie umfaßt alle Phasen der Reproduktion oder des gesamten wirtschaftlichen Prozeßes. Sie ist von den kapitalistischen Gesellschaften und fortschrittlichen Zivilisation unzertrenntlich. Aber ihre Rolle, ihr Einfluß und die Folgen beschränken sich nicht nur auf auf diesen Teil der Welt, sondern erstrecken sich ob positiv oder negativ auf die restlichen Länder und Völker der Welt. Folgende grundlegende Eigenschaften zeichnet diesen Prozeß aus:

1.Die Globalisierung ist mit einer dauerhaften Revolution im Niveau der Produktivkräfte im fortschrittlichen Teil der kapitalistischen Welt verbunden. Außerdem ist sie mit einem Anwachsen des gesellschaftlichen Charaktersder Produktivkräfte und mit der ununterbrochenen Fähigkeit des Kapitalismus, die erforderliche relative Harmonie zwischen ihm und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen herzustellen, verbunden. Diese Entwicklung und die Konkurrenz revolutionieren die Produktivkräfte und verändern die Produktionsstruktur, die Dienstleistungen und die Produktivität der Arbeit. Dadurch verfügt sie über die modernsten Errungenschaften in allen Lebensbereichen.

2. Die Globalisierung ist mit einer Revolution der drei Komponenten der sogenannten technologischen Konvergenz, zwischen dem Computer, der Telekommunikation und der modernsten elektronischen Datenübertragung verbunden. Zusammen bestimmen sie den neuen Gang der industriellen Struktur. Sie verlangen nach mehr Investitionen als die drei industriellen Zentren (USA, Japan und Europa) dafür bis zum Jahr 2015 bestimmt haben.

3. Die tiefen Veränderungen dieser beiden Tendenzen innerhalb der Globalisierung werden sich auf die Lebens- und Denkweise der Menschen in allen Bereichen auswirken. Sie beeinflussen bereits viele Werte, Gewohnheiten, Moralvorstellungen, das Verhalten der Individuen und der Gesellschaft, nicht nur in der fortschrittlichen kapitalistischen Welt, sondern auch langsam in den restlichen Ländern. Viele altverwurzelte Ideen, insbesondere bei den islamistischen und nationalistischen Kräfte, die um Identität, Fundamentalismus, Rassismus und Sehnsucht nach der Vergangenheit kreisen, werden starken Erschütterungen und Ablehnungen ausgesetzt sein, weil sie Teil einer unwiederbringlichen Vergangenheit sind. In naher Zukunft wird es nicht eine globale Kultur geben. Die modernen Technologien werden vielmehr zu einer Annäherung und zu einem Austausch zwischen den Kulturen führen. Darin liegt ein Sieg für die Menschheit und keine Gefahr für die Kulturen. Denn jede Kultur wird seinen eigenen Charakter bewahren können. Aber die islamistischen und nationalistischen Gegner der Globalisierung drohen mit kultureller, ethnischer und religiöser Abschottung. Ganz anders als ihre arabischen und islamischen Vorfahren vor vielen Jahrhunderten.

4. Das Zeitalter der Globalisierung, die Zeit der Infomedia-Revolution, wirddazu beitragen, daß für die Völker und Länder der Dritten Welt neue Tore geöffnet und die Winde der kulturellen Veränderung hineingelassen werden. Inwieweit sie davon profitieren werden, hängt von der Fähigkeit dieser Länder ab bei ihrem jetzigen entwicklungsniveau das Neue aufnehmen zu können. Die Kluft zwischen einigen dieser Länder und den fortschrittlichen kapitalistischen Ländern kann größer oder auch kleiner werden. Die derzeitige Revolution wird ihren Weg in allen Erdgegenden finden und Menschen ohne Hindernisse erreichen. Sie braucht keine Visa. Darin liegt ihre Stärke. Das genau weckt viele Ängst.

Die Strategien der derzeitigen Globalisierung:

Der Prozeß der objektiven Globalisierung, auf den wir hingewiesen haben, ist mit der neoliberalen Politik, die die fortschrittlichen kapitalistischen Länder im Zuge der Globalisierung gegenüber dem Rest der Welt praktizieren, aufs engste verflochten. Hieraus entstehen die Ängste und Vorbehalte ihr gegenüber. Denn aufgrund ihrer wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten und dem Kräftegleichgewicht ist sie imstande, die Globalisierung anderen aufzuzwingen. Das beschert ihr viele Probleme, vor allem in den Ländern der Dritten Welt. Denn die Strategien der derzeitigen Globalisierung sind folgende:

– Sie praktiziert eine erbarmungslose Einmischung, um die „absolute Freiheit“ aufzuzwingen. Diese Freiheit ist einseitig und kommt nur dem freien Fluß des Kapitals, dem Handelsaustausch, der Aufhebung der Zollschranken und den Reformen zugute, damit die Ökonomien der verschiedenen Länder an die Ökonomien der multinationalen Konzerne angepaßt werden können, ohne auf die Verhältnisse dieser Länder und ihre Probleme Rücksicht nehmen zu müssen. Aber gleichzeitg tritt die Globalisierung gegen die Auswanderung der Arbeitskräfte ein (außer der Auswanderung von Fachkräften) und sie errichtet viele Schranken, um Einwanderung zu verhindern.

– Sie versucht die Aufgaben des Staates zu verändern und ihn in einen reinen Verwaltungsapparat zu verwandeln, dessen Aufgabe sich auf die Einnahme und die Verteilung von Steuern beschränkt zugunsten der Entwicklung von Projekten der Privatwirtschaft und die Sicherung der Grundlagen für die Aktivität und der Gewinne dieses Sektors. Darüberhinaus wird dem Staat weiterhin seine militärische, sicherheitspolitische Rolle und das Gewaltmonopol belassen, auch mit der Option der Unterdrückung, um Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten, die für die Entwicklung des Kapitalismus unerläßlich sind, und damit dem kapitalistischen System die sozialen und politischen Widersprüche und Konflikte ferngehalten werden. Hierin verletzt die Globalisierung die Regeln der Demokratie, auf die sie selber angewiesen ist.

– Diese Tendenzen tragen dazu bei, daß die Widersprüche zwischen dem wachsendem gesellschaftlichen CharakterderProduktion einerseits und dem Privateigentrum der Produktionsverhältnisse und der vermehrten privaten Kontrolle auf den Großteil der sozialen Ressourcen und des Volkswirtschaftlichen Einkommens andrerseits, immer größer werden, nicht nur innerhalb der fortschrittlichen kapitalistischen Länder, sondern auch auf internationaler Ebene. Dort wird die ständige Aneignung des Vermögens von immer größer werdende Teile der Bevölkerung, denen man die einfachsten Lebensgrundlagen vorenthält, zunehmend deutlicher. Demgegenüber konzentriert sich immer mehr Vermögen in der Hand kleiner Gruppen, die die multinationalen Monopole beherrschen.

– Die Globalisierung ist eng mit den Bemühungen der multinationalen Monopolfirmen verbunden den gesamten internationalen wirtschaftlichen Prozeß zu kontrollieren. Das heißt alle Phasen der Reproduktion auf internationaler Ebene. Sie benutzen dabei vielerlei Methoden, die das Gesetz erlaubt. Die Presse ist voll mit Nachrichten über Konkurse, feindliche Übernahmen und Fusionen zahlreicher kapitalistischer Firmen unter Konkurrenzdruck, um die größtmögliche internationale Monopolstellung zu erreichen, die imstande ist, den internationalen Wirtschaftsprozeß zu kontrollieren. Diese multinationalen Konzerne versuchen die Ressourcen zu beherrschen und sie für ihre Interessen einzusetzen, wie es im Fall des Erdöls in Nahen Osten geschieht.

– Das spekulierende Kapital und die internationalen Aktienmärkte spielen eine wachsende Rolle bei der Globalisierung. Das wirft seine Schatten auf die Börsen und Ökonomien der Dritten Welt und ruft schwierige Krisen hervor, die zur Kapitalflucht in die Länder des Nordens führt.

– Auch wenn die Globalisierung die Entstehung einer globalen Auffassung von der Natur, von dem Umgang mit Ressourcen, von Menschenrechten und von dem Potential der Umsetzung, erlaubt, so werden aber die praktisch vorhandenen Möglichkeiten nur schwerlich zugunsten aller Menschen eingesetzt. Der Grund liegt in der Beschaffenheit des Kapitalismus, der auf Ausbeutung aus ist und in der relativen Planlosigkeit der ojektiven Gesetze dieses Wirtschaftssystems. Einige Völker haben die Erfahrung gemacht, daß die fortschrittlichen kapitalistischen Länder die Menschenrechte als Instrument zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten zu benutzen beginnen, solange es ihren Interessen dient. Sie lassen davon ab, wenn sie sich kein Profit mehr davon erhoffen.

– Weil die Politik der Globalisierung Widersprüche hervorruft, meinen die westlichen Länder, daß sie den Rüstungswettlauf fortsetzen, die NATO ausbauen und Schnelleingreiftruppen aufstellen sollten, was Mißtrauen bei den anderen Ländern hervorurft. Hinzu kommt, daß der Westen den Rüstungswettlauf in der Dritten Welt unterstützt. Dieser Wettlauf kostet den Ländern materielle Ressourcen und stachelt sie an, ihre Konflikte gewaltsam zu lösen.

– Zu der Politik der multinationalen Konzerne gehört die Verbreitung von den Ideen und der Moral der westlichen Kultur unter dem Etikett der Globalisierung. Sie provozieren damit scharfe Auseinandersetzungen und rufen dadurch Vorbehalte der resltichen Länder und Völker hervor. Das wird besonders am Beispiel der Propagandamethoden deutlich, die die USA betreibt, um ihre Ideen und ihre Kultur zu verbreiten. Ein weiteres Beispiel ist die massive Propaganda für den europäischen Zentralismus oder für die „Leitkultur“, wie es in Deutschland ausgedrückt wird oder der „reinen“ Kultur, die nicht mißgestaltet werden darf durch Kontakt mit anderen Kulturen. So sprechen einige sogar von einer europäischen und einer amerikanischen Globalisierung.

Die Globalisierung bietet zweifellos ein kulturelles und ein modernes Lebensprojekt, das in Harmonie zu der modernen Technologie steht und sich von der Vergangenheit und von dem aktuell Herrschenden unterscheidet. Aber sie befindet sich am Anfang der Entwicklung. Dieses Neue ist imstande, Werte, Gewohnheiten, alte Gebräuche, die nicht mit der Zeit mithalten können, zu verdrängen. Nicht nur in den arabischen und islamischen Gesellschaften, sondern in allen Gesellschaften. Aber diese moderne allgemein gehaltene Kultur wird ihre Besonderheit auf dem Boden der Wirklichkeit jedes Landes und von seinem Entwicklungsstand bekommen. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit und der Widerwillen gegen Veränderungen nach dem Motto „es kann niemals schöner werden, als es war“, ist immer noch der Hauptmotor bei der Bekämpfung der Globalisierung. Einige islamistische und nationalistische Gruppierungen sehen in der modernen Technologie das Hauptinstrument der Globalisierung, um den arabischen muslimischen Menschen zu besiegen und ihn dem Willen des Westens untertan zu machen. Wie diese Technologie wirklich eingesetzt wird, mag dieser Meinung recht geben.

Die Globalisierung erregt Ängste bei den radikalen Klerikern, den radikalen Islamisten und bei einigen nationalistischen Kräften, weil sie nicht imstande sind, sich von der quälenden Sehnsucht nach der Vergangenheit, die sie in ihren Gedanken und in ihren Träumen leben, zu lösen. Viele Moscheeprediger in Nordafrika oder in den Ländern des östlichen Mittelmeeres besteigen die Kanzeln nicht nur, um gegen die Globalisierung zu wettern, sondern auch gegen den Säkularismus, gegen den Rationalismus und gegen jeder Form von Aufklärung in der arabischen Welt. Sie diktieren den Massen, wie sie diese modernen Ausrichtungen widerstehen können. Im Gegenzug versuchen einige gemäßigte Kräfte zwischen der modernen Technologie, die den Muslimen nützlich sein könnte und zwischen dem politischen Gedankengut der Globalisierung mit seinen neokolonialistischen Inhalten, zu trennen.

                    
Dieser Artikel erschien erstmals auf Arabisch in Magallat al-Uyun 11(2001). 

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