Verleihung des Ibn Rushd Preises für Freies Denken 2022 an Saad Salloum
Rede des Preisträgers Saad Salloum
Kampf mit einem Schwert aus Glas
Dieser Diskurs richtet sich an eine Generation, die in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort lebt, nämlich die Generation nach dem Arabischen Frühling und nach ISIS.
Die Generation des Arabischen Frühlings vereinte unsere Völker zum ersten Mal in der Zeitgeschichte aus dem Wunsch heraus, Dinge zu ändern. Denn diese Generation vereinte nicht die Bücher mononationalistischer oder marxistischer Theoretiker mit den Büchern der Gelehrten des politischen Islam, sondern sie vereinten das „Bewusstsein der Extreme“ mit dem Ende der Diktaturen in einer Weise, die die konventionelle Voraussetzung der Untätigkeit unserer Völker erschütterte und uns alle aus einem Zustand der Gleichgültigkeit auf die Stufe der „politischen Kreativität“ erhoben hat.
Aber Veränderung bedeutet nicht nur, Grundgesetze neu zu fassen oder Neuwahlen abzuhalten, sondern sie bedeutet, Denkweisen und Werte zu transformieren, nicht „Mechanismen“. Mechanismen oder Führerstrukturen bauen in einem politischen System kein „Vertrauen“ auf, nur „Institutionen“ können dies bewirken.
Deshalb stellen wir fest, dass Frankenstein seinen Körper schnell aus neuen Stücken wieder zusammengesetzt hat, die das Bild einer umfassenden regionalen Blockade bildeten. Darüber hinaus zerstörte er alte und durch ihre Vielfalt reiche Kulturen. Syrien wurde nach einem blutigen Bürgerkrieg zum Ödland, das glückliche Jemen verkam in Elend und Trauer, und die Explosion des Hafens von Beirut enthüllte das hässliche Gesicht des feudalistischen Regimes im Libanon. Was den Irak betrifft, nachdem Veränderung von außen heraus mit Hilfe des postmodernen Westens nach jahrelangem Ringen zum Scheitern verurteilt war, mit 700 Toten und 20.000 Verwundete – rebellierte die Jugend schließlich, um Veränderung von Innen herbeizuführen, vergebens, … bis heute ist sein abscheuliches Komponenten-System reformresistent geblieben.
Um auf Veränderung zu hoffen, demonstrierte die jesidische Jugend vor einigen Monaten gegen die bewaffneten Gruppierungen in Sindschar. Acht Jahre nach dem Völkermord ist der Völkermord immer noch präsent und setzt sich mit der Fortsetzung des politischen Konflikts und der regionalen Einmischung dort und mit der Nichtrückkehr der Vertriebenen fort.
Was die Mandäer (Anhänger Johannes des Täufers) betrifft, die eine jahrtausendealte Kultur repräsentieren, die Zeit und Raum überschreitet, so haben 90% von ihnen ihre ursprüngliche Heimat bereits verlassen. Hier also trocknet das Wasser von Johannes dem Täufer aus und verdunstet, so wie Mesopotamien (das Zweistromland) mit dem Austrocknen der Flüsse Tigris und Euphrat aufgrund ungerechter Regionalpolitik seine historische Identität verliert.
Auch die Christen sind zu „einem Haus mit vielen Häusern“ geworden, wie es im weisen Spruch heißt. Obwohl mehr als zweihundert Jahre seit der Geburt des Gründers des Bahá’í-Glaubens vergangen sind, erkennt kein arabisches Land den Bahá’í-Glauben an (abgesehen von einer Anerkennung symbolischer Natur in der Region Kurdistan im Irak). Die jüngsten Ereignisse – mit der Invasion Syriens und den Irak durch ISIS – haben gezeigt, dass die Bedrohung durch Völkermord nach wie vor ein wichtiges Thema in der Weltpolitik ist.
Die Tatsache, dass mehr als sechzig Millionen Menschen allein im zwanzigsten Jahrhundert Opfer von Völkermord wurden – ganz abgesehen von den jüngsten Toten in Bosnien und Ruanda, von den Opfern in Darfur, Syrien und dem Irak – verdient ein Innehalten, damit solche Tragödien verhindert werden können. Es liegt in unserer Verantwortung, neue Generationen dazu zu motivieren, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, und jede Politik der Interpretation von Unterschieden, die das geeignete Umfeld für die Begehung von Verbrechen durch die Hassförderer schafft, abzulehnen. Deshalb fordere ich dazu auf, jeglicher Politisierung religiöser Angelegenheiten entgegenzutreten. Und ich bin stolz darauf, einer der Sprecher einer globalen Initiative zu sein, die sich um die Verabschiedung einer globalen Konvention zum Verbot des politischen Gebrauchs von Religion bemüht. Ebenso fordere ich seit 2015, eine globale Allianz von Opfern, um den Völkermord nicht noch einmal zu wiederholen.
Aber das Bild ist nicht ganz düster: Auf regionaler arabischer Ebene können wir auf die Marrakesch-Erklärung zum Schutz religiöser Minderheiten in der islamischen Welt 2016, die Bagdad-Erklärung zur Bekämpfung von Hassreden 2016 und die Al-Azhar-Erklärung zur Staatsbürgerschaft und Koexistenz“ 2017 verweisen. Alle sind miteinander verbundene Initiativen, die sich gegenseitig ergänzen und stärken. Der Besuch Seiner Heiligkeit Papst Franziskus in den Vereinigten Arabischen Emiraten und die Unterzeichnung des „Human Fraternity Documents“ zwischen dem Papst und dem Scheich von Al-Azhar im Februar 2019 gaben solchen Initiativen Auftrieb.
Ebenso der darauffolgende Papstbesuch im März 2021 in den Irak, Land der religiösen, ethnischen und sprachlichen Vielfalt – es umfasst 21 religiöse Sekten, darunter 14 christliche Sekten – und sein Treffen mit Sayyid Al-Sistani, der obersten schiitischen Autorität in Nadschaf.
Ich denke, es ist notwendig, Folgendes zu tun:
1. Veränderung der Traditionen des Schreibens über die Vielfalt in der arabischen Welt, da es keinen Platz mehr für eine ideologisch selektive Geschichte gibt, insbesondere angesichts der Gefahren des Endes der Vielfalt im Nahen Osten. Daher fordere ich arabische Forscher auf, ihre irrationale Vorsicht aufzugeben und die Bedeutung der Vielfalt hervorzuheben und die Möglichkeiten, sie rational zu handhaben, auszuarbeiten. Nachdem ich in achtzehn Arbeiten versucht habe, Interesse für Vielfalt zu wecken, als Quelle des Reichtums und als verbindendes Mittel inmitten der vorherrschenden Spaltungspolitik, wünsche ich mir ein ähnliches Interesse in der gesamten Region.
2. Streben um die Erweiterung des Kreises der Anerkennung nicht-anerkannter religiöser Minderheiten. Wir brauchen eine Revolution gegen die ausschließliche Herangehensweise an die Glaubensfreiheit, die dem universellen Geist der Menschenrechte auf der Grundlage der Achtung der Menschenwürde Aller widerspricht. Lasst Sie uns aus diesem schmalen Boot steigen und alle zur Arche Noah steigen.
3. Unsere Intellektuelle in der arabischen Welt müssen ständig über eine Alternative nachdenken, die die dritte Option zwischen „arabischem Nationalismus“ und „politischem Islam“ darstellt. Dies sind zwei Optionen, die die Vorstellungskraft der Eliten des Nahen Ostens im letzten Jahrhundert dominierten. Es ist notwendig, ein alternatives Modell auf der Grundlage einer „Bürgerschafts“-Assoziation vorzustellen, insbesondere das Modell der „Bürgerschaft, die kulturelle Vielfalt umfasst oder fördert“, mit all der erfinderischen Kreativität, die das Konzept beinhaltet, und der Achtung kultureller Besonderheiten auf der Grundlage der Gleichheit zwischen Individuen.
4. Überdenken unserer rassistischen Praktiken, einschließlich der langjährigen Diskriminierung von Schwarzen in unserem Land. Ich glaube, dass der Anfang mit Gesetzen sein muss, die Rassismus in all seinen Formen kriminalisieren, die Schullehrpläne zu überdenken, um sicherzustellen, dass sie frei von Hassreden sind, und sie so zu ergänzen, dass eine Kultur der Vielfalt, der Gleichheit und der Akzeptanz des anderen gefördert wird, ohne die keine wirkliche Veränderung im Zuge des Aufbaus eines Staatsbürgerstaates vorgenommen werden kann.
Abschließend möchte ich die Verteidiger von Vielfalt und Religionsfreiheit in der arabischen Welt begrüßen, die oft zur Liebe des Feindes aufzurufen scheinen. Diese Art der Treue zu sich selbst ist eine Art Verrat [in den Augen ihrer Sippschaft]. Oh so lasst uns doch unsere „so von Aussterbung bedrohte Art“ einsammeln und per Schiff auf die nächste einsame Insel schicken, oder auf eine weniger kostspielige Weise in einem Minibus zur Beerdigung in die nächste Wüste schicken!
Aber wir werden nicht so schnell aufgeben, sobald wir aufwachen und sprechen, erheben wir unser Schwert aus Glas angesichts der Interessen der Großmächte, die uns das System der Kleinlichkeiten und des Egoismus aufzwingen, und schützen unsere Hoffnung auf Veränderung wie eine kleine Kerze in dieser Dunkelheit. Es ist wahr, dass wir auf der Bühne wie kleine Puppen sein mögen, die Riesen gegenüberstehen, aber mit der Kraft der Hoffnung versuchen wir, die sinkende Titanic zu retten.
Ich sage abschließend: „In der arabischen Welt ist Hoffnung keine Option mehr. Sie muss eine Lebensweise sein.“
Saad Salloum