Der Geist ist aus der Flasche – Anmerkungen zum Arabischen Frühling von Hakam Abdel-Hadi

Während meines langen Aufenthalts in Europa wurde ich mit so vielen Vorurteilen gegenüber Arabern und Muslimen konfrontiert, dass ich irgendwann begann, an meinen Landsleuten zu zweifeln: Sind die Araber überhaupt Demokratie tauglich? Können Muslime wirklich tolerant sein?

In weniger als einem Jahr veränderte sich die arabische Welt so schnell, dass die westlichen Politiker kaum Zeit hatten, sich bei ihren Wählern für ihre bisherige, emsige und meist profitable  Zusammenarbeit mit den arabischen Diktatoren zu entschuldigen.

Ich beobachtete mit großer Freude, wie die jemenitische Journalistin Tawakkul Karman den Nobelpreis erhielt und wie der junge Ägypter Wael Ghonim 2011 vom Time Magazin zu den einflussreichsten 100 Persönlichkeiten der Welt gezählt wurde. Zweifellos spielte Google-Manager Ghonim und seine vitalen und mutigen Freunde mit ihren Internetkreationen eine entscheidende Rolle bei der Mobilisierung der Demonstranten in den ägyptischen Städten.

Nicht weniger eindrucksvoll ist die Persönlichkeit von Rashid Ghannoushi, dem  Vorsitzenden der tunesischen En-Nahda-Partei. Ich sah, wie dieser 70-jährige Mann, dem bis vor Kurzem Reiseverbot nach Deutschland und den USA auferlegt war, nach seiner Heimkehr  aus dem 22-jährigen Exil von Tausenden von Menschen auf dem Flughafen von Tunis feierlich begrüßt wurde. Seine islamische Partei ist nun nach den jüngsten Wahlen mit Abstand die stärkste Fraktion im tunesischen Parlament,  und obwohl der Mann drei Mal lebenslänglich in Abwesenheit vom Regime des Diktators Bin Ali verurteilt wurde,  will er  nicht einmal regieren. Schlicht und ergreifend sagt Ghannoushi in einem Al Jazeera-Interview: „ Gucken Sie sich doch die Köpfe der jungen Leute, die die Revolution durchgeführt haben, und meine weißen Haare an. Nein, sie und nicht ich haben einen Anspruch darauf, die Revolution zu führen. “
Können die arabischen Demokraten und Liberalen, die verkörpert durch die Jugendbewegung in Tunesien und danach in Ägypten den Volksaufstand auslösten, Vertrauen zu den islamischen Parteien fassen? Wie aufrichtig sind die islamischen Kräfte und ihre Beteuerungen, dass sie die demokratischen Prinzipien einhalten werden?

In der Politik und vor allem in solchen historischen Etappen spielt die Glaubwürdigkeit eine entscheidende Rolle. Die meisten Ägypter spürten, dass Wael Ghonim ehrlich war, als er sagte: „Ich glaube an die Ägypter, und ich bin bereit, mein Leben für meinen Traum von einer demokratischen und gerechten Gesellschaft zu geben.“  Seine Tränen während einer Fernsehsendung bewegten die Menschen in der ganzen arabischen Welt. Während dieser Sendung brach er in Tränen aus, als die Moderatorin ihm Bilder von jungen gleichaltrigen  Märtyrern auf dem Tahrirplatz zeigte. Die Trauer  überwältigte ihn. Er unterbrach das Interview und mit gebrochener Stimme verließ er das Studio: „Das haben wir nicht gewollt.“

Die von den jungen Menschen  angeführte Revolution hat Mubarak gestürzt, aber die Macht in Ägypten üben immer noch die Militärs und bald – mit Einschränkung –  die Islamisten aus. Die Lage ist kompliziert. Davon später. Dagegen ist die Situation in Tunesien übersichtlich und eignet sich u. U. als Vorbild für andere arabische Länder.


Der Erfolg in Tunesien ist in erster Linie auf die Bemühungen von Rashid Gannoushi zurückzuführen. Die Biographie dieses Mannes ist sein Kredit. Für sehr viele Tunesier ist seine Partei schlechthin die Opposition gegen die Diktatur. Man kann es nicht besser ausdrücken als ein tunesischer Arbeiter es tat: „Er hat immer nein zu Bin Ali gesagt und deswegen werde ich ihn und seine Partei wählen.“  Über 30.000 Mitglieder der En Nahda- Partei schmachteten in den Gefängnissen Bin Alis.

Ghannoushi verkörpert den modernen und aufgeklärten Islam, und wenn eine Bewegung den schwierigen Nachweis erbringen kann, dass Islam und Demokratie sich vereinbaren lassen, dann ist das seine Partei. Etwas euphorisch kann man sagen, dass er ein Geschenk des Himmels für sein Volk und vielleicht auch für die gesamte arabische Welt ist: Er ist eine seltene Mischung aus Wissen, Besonnenheit und Widerstandskraft. Der studierte Philosoph  kennt Emanuel Kant gut genug, um zu wissen, dass die islamische Bewegung – wie er es formulierte –  keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit habe. Er unterscheidet genau zwischen Glaubens-, Justiz- und Regierungsfragen: „Unsere Religion verbietet uns beispielsweise Alkohol zu trinken, aber sie verpflichtet uns nicht dazu, Gesetze zu erlassen, die den nicht Gläubigen verbieten, Alkohohl zu konsumieren. Dasselbe gilt für das Tragen von Kopftüchern und Bikinis etc.“  Gelassen erzählt er eine selbst erlebte Geschichte: Er sei in einem islamischen Land, in dem es  Kopftuchzwang gibt, in ein Flugzeug eingestiegen. Als die Maschine in Europa landete, habe keine einzige Frau ihr Kopftuch anbehalten. Bei den tunesischen Frauen verhielte es sich dagegen anderes: Die Kopftuchträgerinnen seien vielleicht nur zehn von Hundert, aber die zehn Frauen  würden ihre Tücher nicht ablegen, wenn sie die Maschine verließen.      

Das  klingt gut, aber seine Partei hat noch nicht regiert und sie muss erst den Nachweis erbringen, dass sie in der Zukunft nach verlorenen Wahlen die Macht abgeben würde. Auf die Frage, ob die En-Nahda bereit wäre, dies zu tun, antwortete er, die jungen Leute, die diese Demokratie durch ihren Aufstand möglich machten, würden uns dann von der Macht verjagen, wenn wir die demokratischen Prinzipien verraten sollten. Man ist geneigt, ihm diese persönliche Erklärung abzunehmen. Aber sind seine Parteifreunde auch überzeugte Demokraten? En- Nahda- Generalsekretär und der gegenwärtige Ministerpräsident, Hamad Jebali, stellte kurz nach dem Sieg seiner Partei das 6. islamische Kalifat in Aussicht. Diese Erklärung hat fast die Koalitionsverhandlungen mit den beiden nicht islamistischen Parteien zum Platzen gebracht. Jebali nahm zwar seine Äußerung schnell zurück, aber sie zeigt, wessen Geistes Kind er ist. Vorsicht ist also geboten, und es bleibt eine wichtige Aufgabe der säkularen Organisationen und Bündnispartner, Taten und Erklärungen der islamischen Parteien im Auge zu behalten. Die zwei nicht-religiösen Koalitionsparteien, ´Kongress für die Republik`(CFR) und die sozialdemokratische `Ettakatol`,  die mit den Islamisten die Macht teilen, haben eine wichtige Kontrollfunktion. Insbesondere der Staatspräsident von der CFR-Partei, Moncef  Marzouki, genießt als international anerkannter Demokrat und Menschenrechtskämpfer einen guten Ruf. Dieser renommierte Wissenschaftler war 1989-1994 Vorsitzender der Tunesischen Union für  Menschenrechte; er kennt auch die tunesischen Gefängnisse von innen und wurde vom Diktator Bin Ali 1994 erst nach den Bemühungen von Nelson Mandela freigelassen.

Zum anderen scheint mir die Haltung der En-Nahda , die durch die  bittere Zeit der Opposition und der Gefängnisse  geprägt ist, dadurch bestimmt zu sein, dass sie den jüngsten Wahlerfolg und ihre  historische Chance auf keinen Fall verspielen will. Diese Einschätzung gilt auch für die Muslimbrüder in Ägypten und selbst für die dortigen Salafisten. Man muss bedenken, dass die zu lösenden Aufgaben überwältigend sind: Keine Regierung kann auf Dauer eine Fortsetzung der astronomischen  Arbeitslosigkeit überleben, vor allem, weil in erster Linie die rebellischen  jungen Menschen, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, davon betroffen sind. Etwa 40 Prozent der Ägypter mussten während der Herrschaft von Mubarak mit weniger mehr als einem Euro am Tag auskommen. Diese Parteien, islamisch oder nicht, sind auf jegliche Hilfe angewiesen und werden in den nächsten Jahren jede Konfrontation meiden, die ihren Erfolg gefährden könnte. Auch die islamischen Parteien müssen Erfolge vorlegen. Es fällt beispielsweise auf, dass der Ton von Ghannushi, der vor den Wahlen keinen Hehl aus seiner Unterstützung für Hamas machte, während seines jüngsten USA-Besuchs besonders gemäßigt ausfiel. Er bemühte sich, während seines Aufenthalts dort die Unterstützung der Israel-Lobby zu erhalten. Er bekräftigte, dass er sich in erster Linie für Tunesien einsetze. Ghannushi beteuerte, dass Tunesien keine feindliche Haltung gegenüber Israel einnehme, und dass die künftige tunesische Verfassung keine solche Festlegung enthalten werde.  

Es ist ein offenes Geheimnis,  dass die westliche Nahostpolitik weitgehend mit Israel abgestimmt wird oder zumindest nicht im Widerspruch mit den Interessen Tel Avivs  geraten darf. Die Gültigkeit der Abkommen von Camp-David darf aus israelischer Sicht nicht angetastet werden. Die ägyptischen Muslimbrüder, die solange sie in der Opposition waren, jahrelang diese Abkommen als Verrat bezeichnet hatten, wollen nun sie nicht in Frage stellen.

Ja, die Macht macht nicht nur die „gemäßigten“ Muslimbrüder, sondern auch die als radikal geltenden Salafisten  pragmatisch. So antwortete Dr Imad Abd El Ghafur, der Vorsitzende der Nur-Partei, in einem Interview mit der ägyptischen Zeitung Al Masri am 17. 12. 2011, auf die Frage, ob seine Partei die Camp-David-Abkommen ablehnen würde, staatsmännisch und mit den Muslimbrüdern übereinstimmend: „Das Interesse regiert uns bei allen unseren Entscheidungen. Und das derzeitige Interesse Ägyptens ist einen starken Staat aufzubauen… Wir begrüßen alles, was der Stabilität und der Produktionssteigerung dient und Kriege von unserem Land abwendet. Ich werde nicht den Krieg gegen wen auch immer erklären.“  Die Zeitung wollte ferner von ihm wissen, ob die Macht nicht vom Volke, sondern von Allah ausgehe, so wie die Salafisten dies all die Jahre predigten. Seine Antwort: „Die Menschen regieren, weil – wie bereits erwähnt –   die Interessen entscheidend sind.“ Er sei auch nicht für die Abschaffung der Zinsen, die nach der islamischen Religion als Wucher gelten und strickt verboten sind. Nein, sagte er, die Arbeit der Geschäftsbanken sollte nicht beeinträchtigt werden, aber wir würden die Gründung islamischer Banken fördern und damit andere Optionen für die Muslime schaffen.

In einem Interview mit Al Jazeera war Abd El Ghafur auch kein Extremist, sondern extrem weich. In allen Fragen, die in den vergangenen Jahren für die Salafisten  von prinzipieller Bedeutung waren, zeigte er nach den Wahlen eine grenzenlose Toleranz, so sprach er sich beispielsweise dagegen aus, den Kopftuchzwang einzuführen. Er versäumte aber nicht hinzuzufügen, dass er sich natürlich freuen würde, wenn die muslimischen Frauen Kopftuch oder gar Niqab trügen. Während des ganzen Interviews bemühte sich der gelernte Chirurg und Hochschullehrer darum, keine Aussagen zu machen, die im Wege einer Koalition mit den moderaten Muslembrüdern stehen könnten. Nur eine Frage beantwortete er mit einem eindeutigen „nein“, nämlich ob er dazu bereit wäre, Israel zu besuchen.

Die Salafisten sind ebenso „lernfähig“ wie die Moslimbrüder; man darf sich durch die verstaubten  Äußerungen ihrer theologisch-ideologischen Scheichs nicht täuschen lassen.  So behauptete der berühmte salafistische Agitator Scheich Muhammad Hassan Ali Al Hueini, das Gesicht der Frau müsse nach der islamischen Lehre durch einen Niqab ebenso wie ihr Geschlechtsteil zugedeckt werden.

Sowohl die Moslembrüder als auch die Salafisten glauben, den Konflikt zwischen Ideologie (Fatwas etc.) und Programm durch die Gründung von Parteien ( Al Nur und der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei) gelöst zu haben.  Während die Parteien sich um  die Kunst des Möglichen kümmern, betreiben die Mutterorganisationen ihre alten  klassischen Weltanschauungen weiter.

In Tunesien ist der Spielraum der islamischen En-Nahda relativ groß, während die Macht der Islamisten in Ägypten nicht durch die Wähler, sondern vor allem durch die Armee eingeschränkt wird. Der höchste Militärrat verfügt bisher über alle entscheidenden Machtfaktoren. So berichtete beispielsweise die New York Times am 28. 12. 2011 , dass dieser Rat der ägyptischen Zentralbank einen Kredit von einer Milliarde Dollar zur Verfügung gestellt habe, um die Währung des Landes zu stabilisieren. Die Armee kontrolliert etwa 30 Prozent des Volkseinkommens. Es wird jeden Tag deutlicher, dass die Offiziere, die seit  60 Jahren das Heft in der Hand haben, auf Einfluss und Privilegien nicht verzichten wollen. Die Muslimbrüder versuchen sich durchzumogeln, jede Konfrontation mit den Militärs zu meiden und alle möglichen Kompromisse mit ihnen zu machen. Es ist nicht voraussehbar, ob es zum Bruch zwischen beiden Seiten kommt. Wer wird das entscheidende Wort bei der Verabschiedung der künftigen Verfassung sprechen?

Eins steht fest: Die Jugendbewegung, die die Revolution in Tunesien und Ägypten entfacht hat, wird sich weiterhin zu gegebener Zeit zunächst als Korrektiv einmischen und zwar nicht nur durch neue Massendemonstrationen, sondern auch durch andere Organisationsformen. Azmi Bishara, eine hervorragende Persönlichkeit, die einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Revolutionen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und den Jemen hat, gab den Aktivisten den Rat, sich auf die nächsten Wahlen zu vorbereiten.

Die Demonstrationen auf dem Tahrirplatz seien sehr wichtig gewesen, aber der Demokratisierungsprozess bräuchte mindestens zehn Jahre. Die Fernsehanstalt AL JAZEERA, die schätzungsweise von 75 Millionen Arabern gesehen wird, führte fast wöchentlich ein langes Interview mit diesem gelernten Philosophen, der darüber hinaus stundenlange Vorträge und Gespräche in Kairoer Universitäten etc. geführt hat. Sein Einfluss erinnert an den Einfluss von Prof. Herbert Marcuse auf die Studentenbewegung in den 60-er Jahren. Bishara, ein begnadeter Rhetoriker,  ist nicht nur Theoretiker; er war jahrelang Knessetmitglied und gründete in den 90-er Jahren eine starke oppositionelle arabische Partei in Israel, die vor allem das Ziel verfolgte, die gleichen Bürgerrechte für alle zu fordern. Interessant an diesem Mann ist auch, dass er ein arabisch-palästinensischer Christ ist, der von seinen muslimischen Gesprächspartnern geachtet wird, weil er ein qualifizierter Islamkenner und in keiner Weise islamfeindlich ist. Er trug wesentlich dazu bei, die Prinzipien der Demokratie zu definieren und die Strategie des Aufstands zu entwickeln. Natürlich gibt es auch eine Reihe von anderen hervorragenden arabischen Wissenschaftlern, Politikern, Richtern und Journalisten , die in Tunesien, Ägypten, Syrien und den übrigen arabischen Ländern eine wichtige Rolle im Zuge des arabischen Frühlings spielten und immer noch spielen. 

 
Es ist zweifellos ein langwieriger und schwieriger Weg, den die arabischen Revolutionäre beschritten haben und noch beschreiten, und  es ist noch schwieriger Prognosen abzugeben.  Es  steht aber schon jetzt fest, dass die Menschen in der arabischen Welt eine  demokratische Perspektive haben. Sie werden sich nicht länger mit der Diktatur und Korruption  abfinden. Es ist eine neue Epoche angebrochen, die langfristig keine Macht aufhalten kann. Die Bürger haben sich selbst und ihre Rechte entdeckt. Der Geist ist aus der Flasche.

12. Januar 2012

Erschienen auch auf dem Palästina Portal

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