Die Mauer von Hamid Fadlalla

Frau M. besuchte seit vier Jahren meine Praxis regelmäßig, um sich untersuchen und die Antibabypillen verschreiben zu lassen. Sie war in der Blüte ihrer Jahre, schlank mit feinen Lippen und schönen großen Augen. Ihre langen Haare trug sie zurückgekämmt. Sie kleidete sich modern, ohne zu übertreiben.

Bei einem ihrer Besuche erzählte sie mir von einer stürmischen Liebesgeschichte, die sie mit einem Kommilitonen während des Studiums erlebt hat.

Sie sagte: „Er war ein großer und gut aussehender junger Mann. Er war redegewandt und neigte zu Scherzen auf angenehme Weise. Wir, die Mädchen, waren alle sehr
verliebt in ihn. Schließlich habe aber ich sein Herz erobert. Wir waren unzertrennlich, auch während der Ferien. Plötzlich und ohne scheinbaren Grund beendete er seine Beziehung zu mir. Für mich brach eine Zeit an, die mein Leben fortzuwehen drohte. Dann habe ich meinen jetzigen Mann während einer Pressekonferenz kennen gelernt. Er ist einige Jahre älter als ich, hat einen sehr guten Charakter, verfügt über ein umfangreiches Wissen, und leitet ein großes Unternehmen. Ich konnte mich dadurch wieder fangen.“

Frau M. fügte hinzu: „Wenn wir im Bett sind, nimmt er mich liebevoll in seine Arme. Auf dem Höhepunkt unserer Vereinigung drängt sich mir das Bild meines verflossenen Freundes auf und ich spüre fast seinen Atem. Meine Nerven sind angespannt und es schnürte mir die Kehle zu. In einem solchen Moment habe ich das Gefühl, meinen Mann zu betrügen und ihn zu verraten. Still überkommen mich Trauer und Schmerz. Ich kann meinem Mann davon nicht erzählen, denn ich würde ihn, der mich sehr liebt, damit verletzen.“

Ich erfuhr von ihr, dass sie zurzeit als Redakteurin in einer großen Berliner Zeitung arbeitet. Mit einem Kollegen ist sie auf der dritten Seite für die Außenpolitik, vor allem in der Dritten Welt, zuständig.

Seitdem verfolge ich ihre Beiträge, die sich durch Objektivität, akribische und faire Analyse sowie einen scharfen Verstand auszeichnen. Sie unterscheiden sich von manchen anderen deutschen Presseerzeugnissen, die gegenüber den Entwicklungen und Problemen der Dritten Welt oft voreingenommen sind.

Sie bemühte sich, in der Sprechstunde die letzte Patientin zu sein, um viel Zeit zu haben. Sie redete viel und schnell , trotzdem waren die Worte deutlich zu verstehen, wegen ihrer angenehmen Stimme hörte ich ihr gerne zu.

Sie unterhielt sich mit mir und fragte mich nach meiner Heimat. Ich staunte manchmal über ihr umfangreiches Wissen von der Entwicklung in meinem Land. Nicht nur wegen der Krise in Darfour, über die in den westlichen Massenmedien oft falsch berichtet wird. Dahinter stecken sicher manchmal bestimmte Interessen.

Sie fragte mich nie, warum ich nicht in meine Heimat zurückgehe – eine Frage, die jeder Migrant fürchtet. Verwundert stellte sie fest: „..Jedes Mal wenn euer Land aus einer Krise rauskommt, tappt es in die nächste hinein. Dieses Land mit seinen liebenswürdigen Menschen könnte mit seinen großen Möglichkeiten zu den erfolgreichen Entwicklungsländern gehören.“

Ich diskutierte mit ihr manchmal irrational über Korruption, Rückständigkeit und Unzulänglichkeiten in meinem Land, verblendet durch nationales Ehrgefühl, durch Stolz, die tödliche Identitätsfalle und Selbsttäuschung gegenüber Fremden.

Auf meine Frage, ob sie nicht befürchtet, durch ihrer Beiträge Nachteile zu bekommen, erwiderte sie,“ mein Kollege teilt meine politische Meinung und wir respektieren uns gegenseitig. Außerdem ist der Chefredakteur ein erfahrener und kluger Journalist. Er mischt sich kaum in unsere Berichte ein, er kritisiert uns manchmal, um Bedenken des Verlegers zu vermeiden. Unsere wirkliche Unterstützung finden wir aber in den Briefen und Kommentaren der Leser.“

Sie erzählte mir traurig, , seit sie die Pille vor zwei Jahren abgesetzt hat, träumt sie von einer Schwangerschaft. Ich sagte ihr immer, dass alle Untersuchungen, denen sie und ihr Mann sich unterzogen haben, auf keinerlei Schwangerschaftshindernisse deuteten. Sie solle sich ein wenig gedulden. Sie sagte: „Wie lange noch? Ich werde immer älter. Meine Freundinnen und die Bekannten meines Mannes haben schon Kinder. Meine Schwiegereltern fragen immer wieder nach einem Enkelkind“.

Ich fürchtete, sie würde nicht wiederkommen. Aber dann saß sie wieder vor mir. Ich freute mich, dass sie weiterhin an meine Diagnose glaubte.

Eines Tages kam sie zu mir und setzte sich schweigend hin. Sie sah blass aus. Als sie meine Beunruhigung fühlte, sagte sie: „Es ist nichts weiter. Ich habe viel zu tun und bin müde.“ Wie üblich habe ich sie untersucht und ihr geraten, einen längeren Urlaub mit ihrem Mann zu machen. Sie sagte: „ Wie kann ich meinen Mann überzeugen, nicht immer nur Kurzurlaube zu machen?“ Ich sagte, dass Frauen immer Mittel und Wege finden, um ihre Männer zu überzeugen. Sie lächelte nur..“

Eines Tages ging die Tür auf und Frau M. stürmte in meine Praxis, an meiner Arzthelferin vorbei. Sie streckte ihre nackten Arme aus und sagte: „Sehen Sie mal, Ich bin jetzt brauner als Sie.“ Auf meine Haut zeigend erwiderte ich: „Bei mir ist es aber echt.“ Sie lachte und fuhr fort: „ Das war ein Sommer und ein toller Urlaub. Die Luft war erfrischend und sauber. Es fiel nicht ein Regentropfen. Die Sonne schien ununterbrochen. Nachts schmückten die Sterne den klaren Himmel und spiegelten sich im Wasser des Meeres. Es war bezaubernd. Wir schauten nicht auf die Uhr und wachten morgens auf, wann wir wollten“.
Sie erzählte weiter: „Am Frühstückstisch, als wir uns schon auf die Abreise vorbereitet hatten, legte mein Mann seine Arme um meine Hüften und zog mich an sich. Er sagte mir, dass er vergangene Nacht , wie nie zuvor bei mir ein solch tiefes Empfinden erlebt hatte. Es war wirklich eine wunderbare Nacht. Ich habe meine Arme um seinen Hals gelegt und meinen Kopf an seiner Brust vergraben, um meine Tränen zu verstecken.“

Ich schaute sie an, sie errötete und wendete beschämt den Blick ab, weil sie vielleicht zu viel preisgegeben hatte. Als ich lächelte, sprach sie leise weiter: „Ich komme früher als sonst, weil ich Spannungen in meinen Brüsten fühle und mir manchmal übel und schwindlig ist.“ Ich habe sie untersucht und sagte ihr dann, dass Anzeichen einer Schwangerschaft festzustellen sind. Sie antwortete nicht, auch nachdem die Schwester ihr die Laborergebnisse vorlegte. Sie wirkte so, als ob sie keinen Ton mehr über die Lippen bringen konnte. Sie wischte die Tränen ab, bevor sie über ihre Wangen rinnen konnten und stammelte vor sich hin: „Ich glaube es nicht… ich glaube es nicht, ich bin wie in einem Traum.“

Ich stand auf. Doch bevor sie ging, sagte sie laut: „Mein Gott! vor lauter Aufregung habe ich vergessen, Ihnen etwas zu erzählen. Als ich auf dem warmen Sand den Strand entlanglief, sah ich meinen früheren Freund dort liegen. Er war sehr dick geworden, trug eine dicke Hornbrille und von seinem wunderschönen vollen Haar war kaum etwas übrig geblieben. Ich schaute ihn an, wir tauschten schnelle Blicke ,ich lief schnell weg, bevor mir schlecht wurde.“

Ich ging auf sie zu und verabschiedete mich von ihr mit einem sanften Händedruck, und dann war sie auch schon ganz schnell weg.

Hamid Fadlalla – Arzt aus dem Sudan, lebt in Berlin/Deutschland.

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