Ankündigung des Gewinners des Ibn Rushd Preises 2005:
Pressemitteilung vom 27.10.05
Wem gehört der Islam?
Der Islam-Reformer Nasr Abu Zaid erhält den Ibn Rushd-Preis 2005
Der diesjährige Ibn Rushd-Preis für Freies Denken wird einem der bedeutendsten islamischen Gelehrten unserer Zeit verliehen. Der aus Ägypten stammende und seit 1995 im niederländischen Exil lebende Islamwissenschaftler Nasr Abu Zaid erhält den Preis für seinen langwährenden Kampf für eine unabhängige Koranforschung, unnachgiebig geführt selbst um den Preis der persönlichen Freiheit. Der Preisträger, der den Preis am Freitag, den 25. November 2005, persönlich in Berlin entgegennimmt, wurde von einer unabhängigen Jury gewählt.
Der Islam wird im Westen nicht erst seit dem 11. September 2001 in erster Linie mit den sogenannten ‚Fundamentalisten‘ in Verbindung gebracht. ‚Fundamentalismus‘ ist jedoch ein irreführender Begriff – die Islamisten gehen nicht zurück zu den Fundamente des Islam. Sie sind Traditionalisten, die sich auf überlieferte Gesetze und Gebräuche berufen, nicht auf den Koran selbst. Um die Freilegung der Fundamente des Islam bemühen sich andere Kräfte.
Der ägyptische Literaturwissenschaftler und Koranforscher Nasr Abu Zaid kritisiert die traditionelle Lesart des Koran als überkommen und wirbt statt dessen für eine wissenschaftlich fundierte Interpretation, die den Text in den zeitgeschichtlichen Kontext einordnet und die eigentlichen Aussagen von zeitbedingt entstandenen trennt. Eine zeitgemäße Auslegung des Islam soll mit Hilfe historischer und linguistischer Methoden erarbeitet werden, denn der Text des Koran selbst ist vielfältigen Interpretationen offen. Einen solchen Interpretationspluralismus hat es in der islamischen Geschichte durchaus gegeben, bevor Orthodoxie und Islamismus Anspruch auf das Auslegungsmonopol erhoben und die Eindeutigkeit der göttlichen Worte behaupteten, deren Bedeutung sie auf Gebieten und Verbieten beschränken.
Der gläubige Muslim Abu Zaid will den Koran vor der Tradition retten, die die religiöse Essenz bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Er will ihn wiederbeleben und ins Hier und Jetzt holen. Abu Zaid, der aus einfachen, dörflichen Verhältnissen stammt und als junger Mann der Muslimbruderschaft nahestand, sagt: „Mein Diskurs bedroht den der Islamisten, weil er sich wirklich auf ihn einlässt, weil er ihn analysiert, weil er die Falschheit und die manipulierende Absicht ihres Diskurses aufdeckt. Sie, die Islamisten, wissen, dass ich kein Apostat bin. Sie wissen, dass es dafür nicht den geringsten Beleg in meinen Büchern gibt.“
Der Ibn Rushd Preis für Freies Denken wird am 25. November 2005 zum siebten Mal verliehen. Ganz im Geiste des Namenspatrons Ibn Rushd (1126 – 1198, alias Averroes), dem Philosophen und Vermittler zwischen den Kulturen, widmet sich der Ibn Rushd Fund für Freies Denken dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Demokratie in der arabischen Welt. Der diesjährige Preis war ausgeschrieben für einen Islamforscher, der sich um eine grundlegende Reform des Islam und des islamischen Denkens bemüht.
Der ägyptische Islamwissenschaftler erregte Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts Aufsehen, als er aufgrund seiner wissenschaftlichen Schriften als Ketzer und Apostat (Abtrünniger vom Glauben) gebrandmarkt wurde.
Weil es in Ägypten jedoch kein rechtliches Mittel gibt, jemand direkt der Apostasie anzuklagen, bedienten sich Abu Zaids Gegner des nach Religionen getrennten Eherechtes, um einen Intellektuellen auf juristischem Wege zum Schweigen zu bringen. Abu Zaid sollte als Apostat von seiner Frau zwangsgeschieden werden: eine Muslimin darf nicht mit einem Nicht-Muslim verheiratet sein. Den Eheleuten drohte Lebensgefahr. Abu Zaid und seine Ehefrau, die Romanistik-Professorin Ibtihal Yunes, verließen schließlich Ägypten und leben seitdem im Exil in den Niederlanden, wo Nasr Abu Zaid den Lehrstuhl für Islamwissenschaften an der Universität zu Leiden sowie den Ibn Rushd-Lehrstuhl für Humanismus und Islam an der Universität für Humanismus zu Utrecht innehat.
Abu Zaids Fall ist der beste Beweis für die dringende Notwendigkeit wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Koran: Die Scharia, das im Mittelalter kodifizierte und seither kaum veränderte ‚islamische Recht‘ sieht als Strafe für Apostasie, wie sie Abu Zaid – zu Unrecht – seitens der Islamisten vorgeworfen wird, die Hinrichtung vor. Grundlage hierfür ist ein in der islamischen Welt umstrittener Propheten-Ausspruch, wonach diejenigen, die ihre Religion wechselten, zu töten seien. Im Koran selbst findet sich keine derartige Aussage, daher ist dieser Teil der Scharia in den meisten arabischen Staaten nicht in das Gesetzbuch aufgenommen worden.
Abu Zaid will den Koran der politischen Vereinnahmung entziehen, wie sie in vielen islamischen und arabischen Ländern ausgeübt wird, und wie sie etwa religiöse Fanatiker praktizieren, die sich auf den Islam berufen, wie sich einst die Inquisitoren auf das Christentum beriefen.
Das Religionsestablishment in Ägypten scheint sich jedoch weniger durch die Vereinnahmung des Islam durch diese religiösen Fanatiker bedroht zu fühlen als durch die Analyse und Interpretation des Islam durch einen Wissenschaftler wie Abu Zaid. Dies ist eine beunruhigende Schieflage und ein Notstand.
Der Ibn Rushd-Fund hat es sich mit dem diesjährigen Preis zur Aufgabe gemacht, die aufklärerischen und weltoffenen Kräfte im Islam zu stärken. Mit Nasr Abu Zaid wird ihr herausragendster Vertreter geehrt.
Nasr Abu Zaid wird den Preis am 25. November 2005 um 17.00 Uhr im Goethe Institut, Neue Schönhauser Straße 20, in Berlin-Mitte persönlich entgegennehmen.
Ein Empfang mit arabischem Tee, Bakhlava und Zeit für persönliche Diskussionen schließt die Feierlichkeiten ab.